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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Zügen zu leihen; ebendaher müssen sie aber auch als Stoffe für sich,
worin nun das Analogon als ein selbständiges Ganzes auftritt und die ver-
gleichende Beziehung nur leicht umherspielt, der Bildnerkunst zusagen. --
Diese Beziehung hebt natürlich den Gegensatz nicht auf und das edelste
Thier bleibt zugleich ein unendlich Anderes, Niedrigeres, als der Mensch.
Die Bildnerkunst wird daher mit besonderer Liebe den unendlichen Vor-
zug in der Aehnlichkeit durch Zusammenstellungen zeigen, worin das Thier
als Gefährte, Gespiele, Diener oder als bekämpfter Feind neben den Men-
schen tritt; eine Welt von milden und vollen Contrasten und mitten im
Contraste von Verwandtschaften wird sich eröffnen. Wenn Herkules den
Kretischen Stier bezwingt, so sehen wir in ihm das Stierähnliche, zum
menschlich Heroischen erhoben, über die in Formen verwandte rein thierische
Erscheinung siegen, wenn er die cerynitische Hirschkuh zu Boden drückt,
so meint man ihre zarten, schlanken Glieder unter der in vollem Gegen-
satze wirkenden Wucht des gedrungenen Heldenleibs krachen zu hören; aber
freundlich tränkt der ruhende Bachus den Panther, in welchem das Heiße,
Leidenschaftliche, Formenweiche des Gottes thierisch ausgeprägt ist, und Apollon
und Artemis, die hirschähnlich schlanken, spannen das willige Hirschpaar
vor ihren Götterwagen.

§. 611.

Der Umfang des Ausführbaren in Beziehung auf die Vielheit der
in einem Werke zu vereinigenden Gestalten erweitert sich durch gewisse Arten
engerer Verbindung der Bildnerkunst mit der Baukunst: namentlich die Gruppen
der Giebelfelder und das Relief. Da jedoch die Fläche, aus welcher
hier die Figuren in minderem oder stärkerem Grade der Erhebung, im Giebel-
felde bis zur Ablösung, hervortreten, keineswegs den in die künstlerische Dar-
stellung mitaufgenommenen Raum darstellt, welcher, als architektonische oder
landschaftliche Umgebung behandelt, es zuließe, in beliebigen Abstufungen
der Entfernung nach der Tiefe beliebig viele Figuren aufzuführen und hinter-
einanderzustellen, so ist jene Erweiterung eine beschränkte und macht ihre Be-
deutung erst in der Frage über die Composttion eingreifender sich geltend.

Zu den Formen der engeren Verbindung mit der Baukunst als eines
Motivs, wodurch die Strenge des Gesetzes der Sparsamkeit in der Figuren-
zahl gemäßigt wird, können wir jene zu §. 609, 1. erwähnte reichere
Gruppirung um ein gegliedertes Postament zählen; Aufreihungen vieler
Statuen in Sälen, Treppenhäusern, auf Galerieen können auch nach der
Idee des innerlich Zusammengehörigen geordnet werden, hier ist aber der
Begriff des Zusammengehörigen ein so loser, daß dadurch die Bildnerkunst

Zügen zu leihen; ebendaher müſſen ſie aber auch als Stoffe für ſich,
worin nun das Analogon als ein ſelbſtändiges Ganzes auftritt und die ver-
gleichende Beziehung nur leicht umherſpielt, der Bildnerkunſt zuſagen. —
Dieſe Beziehung hebt natürlich den Gegenſatz nicht auf und das edelſte
Thier bleibt zugleich ein unendlich Anderes, Niedrigeres, als der Menſch.
Die Bildnerkunſt wird daher mit beſonderer Liebe den unendlichen Vor-
zug in der Aehnlichkeit durch Zuſammenſtellungen zeigen, worin das Thier
als Gefährte, Geſpiele, Diener oder als bekämpfter Feind neben den Men-
ſchen tritt; eine Welt von milden und vollen Contraſten und mitten im
Contraſte von Verwandtſchaften wird ſich eröffnen. Wenn Herkules den
Kretiſchen Stier bezwingt, ſo ſehen wir in ihm das Stierähnliche, zum
menſchlich Heroiſchen erhoben, über die in Formen verwandte rein thieriſche
Erſcheinung ſiegen, wenn er die cerynitiſche Hirſchkuh zu Boden drückt,
ſo meint man ihre zarten, ſchlanken Glieder unter der in vollem Gegen-
ſatze wirkenden Wucht des gedrungenen Heldenleibs krachen zu hören; aber
freundlich tränkt der ruhende Bachus den Panther, in welchem das Heiße,
Leidenſchaftliche, Formenweiche des Gottes thieriſch ausgeprägt iſt, und Apollon
und Artemis, die hirſchähnlich ſchlanken, ſpannen das willige Hirſchpaar
vor ihren Götterwagen.

§. 611.

Der Umfang des Ausführbaren in Beziehung auf die Vielheit der
in einem Werke zu vereinigenden Geſtalten erweitert ſich durch gewiſſe Arten
engerer Verbindung der Bildnerkunſt mit der Baukunſt: namentlich die Gruppen
der Giebelfelder und das Relief. Da jedoch die Fläche, aus welcher
hier die Figuren in minderem oder ſtärkerem Grade der Erhebung, im Giebel-
felde bis zur Ablöſung, hervortreten, keineswegs den in die künſtleriſche Dar-
ſtellung mitaufgenommenen Raum darſtellt, welcher, als architektoniſche oder
landſchaftliche Umgebung behandelt, es zuließe, in beliebigen Abſtufungen
der Entfernung nach der Tiefe beliebig viele Figuren aufzuführen und hinter-
einanderzuſtellen, ſo iſt jene Erweiterung eine beſchränkte und macht ihre Be-
deutung erſt in der Frage über die Compoſttion eingreifender ſich geltend.

Zu den Formen der engeren Verbindung mit der Baukunſt als eines
Motivs, wodurch die Strenge des Geſetzes der Sparſamkeit in der Figuren-
zahl gemäßigt wird, können wir jene zu §. 609, 1. erwähnte reichere
Gruppirung um ein gegliedertes Poſtament zählen; Aufreihungen vieler
Statuen in Sälen, Treppenhäuſern, auf Galerieen können auch nach der
Idee des innerlich Zuſammengehörigen geordnet werden, hier iſt aber der
Begriff des Zuſammengehörigen ein ſo loſer, daß dadurch die Bildnerkunſt

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[391/0065] Zügen zu leihen; ebendaher müſſen ſie aber auch als Stoffe für ſich, worin nun das Analogon als ein ſelbſtändiges Ganzes auftritt und die ver- gleichende Beziehung nur leicht umherſpielt, der Bildnerkunſt zuſagen. — Dieſe Beziehung hebt natürlich den Gegenſatz nicht auf und das edelſte Thier bleibt zugleich ein unendlich Anderes, Niedrigeres, als der Menſch. Die Bildnerkunſt wird daher mit beſonderer Liebe den unendlichen Vor- zug in der Aehnlichkeit durch Zuſammenſtellungen zeigen, worin das Thier als Gefährte, Geſpiele, Diener oder als bekämpfter Feind neben den Men- ſchen tritt; eine Welt von milden und vollen Contraſten und mitten im Contraſte von Verwandtſchaften wird ſich eröffnen. Wenn Herkules den Kretiſchen Stier bezwingt, ſo ſehen wir in ihm das Stierähnliche, zum menſchlich Heroiſchen erhoben, über die in Formen verwandte rein thieriſche Erſcheinung ſiegen, wenn er die cerynitiſche Hirſchkuh zu Boden drückt, ſo meint man ihre zarten, ſchlanken Glieder unter der in vollem Gegen- ſatze wirkenden Wucht des gedrungenen Heldenleibs krachen zu hören; aber freundlich tränkt der ruhende Bachus den Panther, in welchem das Heiße, Leidenſchaftliche, Formenweiche des Gottes thieriſch ausgeprägt iſt, und Apollon und Artemis, die hirſchähnlich ſchlanken, ſpannen das willige Hirſchpaar vor ihren Götterwagen. §. 611. Der Umfang des Ausführbaren in Beziehung auf die Vielheit der in einem Werke zu vereinigenden Geſtalten erweitert ſich durch gewiſſe Arten engerer Verbindung der Bildnerkunſt mit der Baukunſt: namentlich die Gruppen der Giebelfelder und das Relief. Da jedoch die Fläche, aus welcher hier die Figuren in minderem oder ſtärkerem Grade der Erhebung, im Giebel- felde bis zur Ablöſung, hervortreten, keineswegs den in die künſtleriſche Dar- ſtellung mitaufgenommenen Raum darſtellt, welcher, als architektoniſche oder landſchaftliche Umgebung behandelt, es zuließe, in beliebigen Abſtufungen der Entfernung nach der Tiefe beliebig viele Figuren aufzuführen und hinter- einanderzuſtellen, ſo iſt jene Erweiterung eine beſchränkte und macht ihre Be- deutung erſt in der Frage über die Compoſttion eingreifender ſich geltend. Zu den Formen der engeren Verbindung mit der Baukunſt als eines Motivs, wodurch die Strenge des Geſetzes der Sparſamkeit in der Figuren- zahl gemäßigt wird, können wir jene zu §. 609, 1. erwähnte reichere Gruppirung um ein gegliedertes Poſtament zählen; Aufreihungen vieler Statuen in Sälen, Treppenhäuſern, auf Galerieen können auch nach der Idee des innerlich Zuſammengehörigen geordnet werden, hier iſt aber der Begriff des Zuſammengehörigen ein ſo loſer, daß dadurch die Bildnerkunſt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/65>, abgerufen am 21.11.2024.