Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.2. Mitte. §. 591. Der gothische Styl gibt die Kuppel auf und legt die geistige Ein- Wir übergehen den sogen. Uebergangsstyl und fassen den gothischen 2. Mitte. §. 591. Der gothiſche Styl gibt die Kuppel auf und legt die geiſtige Ein- Wir übergehen den ſogen. Uebergangsſtyl und faſſen den gothiſchen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <pb facs="#f0152" n="312"/> <div n="7"> <head>2. <hi rendition="#g">Mitte</hi>.</head><lb/> <div n="8"> <head>§. 591.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Der <hi rendition="#g">gothiſche</hi> Styl gibt die Kuppel auf und legt die geiſtige <hi rendition="#g">Ein-<lb/> heit</hi> ganz in den Chor; er löst die letzte ſtructive Gebundenheit durch die<lb/> Spitzbogenwölbung in <hi rendition="#g">Freiheit</hi> auf und bricht zugleich die letzte Maſſenherr-<lb/> ſchaft durch die Strebepfeiler und Strebebögen, zwiſchen welchen die Wand ſich<lb/> als hohes, großes Fenſter öffnet; er führt Kraft und Laſt durch die feinere<lb/> Gliederung des Pfeilers und der Gurten noch vollſtändiger ineinander über und<lb/> ruft alle Haupttheile zu gegenſeitiger <hi rendition="#g">Vermittlung</hi>; er zieht in noch ſtärke-<lb/> rem <hi rendition="#g">Höheſtreben</hi> und entſchiedenem Durchdringen des Senkrechten alle Theile<lb/> empor und drückt dieſe Richtung abſchließend in dem gewaltigen, jetzt organiſch<lb/> entwickelten <hi rendition="#g">Thurmbau</hi> aus, der, vereinigt mit dem geſteigerten Reichthum<lb/> des Aeußern überhaupt und beſondere der Fa<hi rendition="#aq">ç</hi>ade, nunmehr auch den Charakter<lb/> des <hi rendition="#g">Innerlichen</hi> mit vollendeter Pracht im <hi rendition="#g">Aeußern</hi> kund gibt. Zugleich<lb/> dehnt ein orientaliſcher, aber durch die reiche Gliederung der Maſſen ver-<lb/> geiſtigter Drang des <hi rendition="#g">Coloſſalen</hi> alle Verhältniſſe zu Staunenerregender<lb/> Größe aus.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Wir übergehen den ſogen. Uebergangsſtyl und faſſen den gothiſchen<lb/> ſogleich in ſeiner Vollendung. Hier ſehen wir denn vor Allem jenes<lb/> Schwanken zwiſchen einem geiſtigen und einem örtlichen Centrum ver-<lb/> ſchwunden, indem die, allerdings immer noch bedeutend hervortretende<lb/> Wölbung über der Kreuzung der Arme gewöhnlich nicht mehr mit einer<lb/> Kuppel, ſondern, wenn überhaupt dieſer Punct eine Auszeichnung er-<lb/> fährt, nur mit einem, dem bedeutenderen Thurmbau untergeordneten<lb/> Thurme gekrönt wird. Der Chor erhebt ſich nun zwar, da die Krypta<lb/> verſchwindet, nur um wenige Stufen; aber er wird um mehr als das<lb/> Doppelte jenes ſchon im romaniſchen Bau ihm vorgelegten Quadrats<lb/> verlängert, er wird in der belebten Polygonform abgeſchloſſen, um die<lb/> ſich gewöhnlich noch ein Kranz ebenfalls polygoniſch geſchloſſener Kapellen<lb/> herumlegt, und, was das Wichtigſte iſt, die Pfeiler der Seitenſchiffe des<lb/> Langhauſes ſetzen ſich in ihm als ein Umgang fort und beleben ſo dieſen<lb/> durch den prachtvollen Hochaltar und die Chorſtühle geſchmückten Raum<lb/> mit einer Fülle von Formen, die in der reichen Concentrirung des hier<lb/> in einen Strahlenbündel zuſammenlaufenden Gewölbes ihren Gipfel findet.<lb/> Jene ſubjective, maleriſch perſpectiviſche Wirkung, die ſchon die Baſilika,<lb/> noch mehr der romaniſche Bau hatte, findet in dieſer Ausſtrahlung oder<lb/> Einſtrahlung nun ihr nicht mehr zweifelhaftes Ziel. — Das zweite weſent-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [312/0152]
2. Mitte.
§. 591.
Der gothiſche Styl gibt die Kuppel auf und legt die geiſtige Ein-
heit ganz in den Chor; er löst die letzte ſtructive Gebundenheit durch die
Spitzbogenwölbung in Freiheit auf und bricht zugleich die letzte Maſſenherr-
ſchaft durch die Strebepfeiler und Strebebögen, zwiſchen welchen die Wand ſich
als hohes, großes Fenſter öffnet; er führt Kraft und Laſt durch die feinere
Gliederung des Pfeilers und der Gurten noch vollſtändiger ineinander über und
ruft alle Haupttheile zu gegenſeitiger Vermittlung; er zieht in noch ſtärke-
rem Höheſtreben und entſchiedenem Durchdringen des Senkrechten alle Theile
empor und drückt dieſe Richtung abſchließend in dem gewaltigen, jetzt organiſch
entwickelten Thurmbau aus, der, vereinigt mit dem geſteigerten Reichthum
des Aeußern überhaupt und beſondere der Façade, nunmehr auch den Charakter
des Innerlichen mit vollendeter Pracht im Aeußern kund gibt. Zugleich
dehnt ein orientaliſcher, aber durch die reiche Gliederung der Maſſen ver-
geiſtigter Drang des Coloſſalen alle Verhältniſſe zu Staunenerregender
Größe aus.
Wir übergehen den ſogen. Uebergangsſtyl und faſſen den gothiſchen
ſogleich in ſeiner Vollendung. Hier ſehen wir denn vor Allem jenes
Schwanken zwiſchen einem geiſtigen und einem örtlichen Centrum ver-
ſchwunden, indem die, allerdings immer noch bedeutend hervortretende
Wölbung über der Kreuzung der Arme gewöhnlich nicht mehr mit einer
Kuppel, ſondern, wenn überhaupt dieſer Punct eine Auszeichnung er-
fährt, nur mit einem, dem bedeutenderen Thurmbau untergeordneten
Thurme gekrönt wird. Der Chor erhebt ſich nun zwar, da die Krypta
verſchwindet, nur um wenige Stufen; aber er wird um mehr als das
Doppelte jenes ſchon im romaniſchen Bau ihm vorgelegten Quadrats
verlängert, er wird in der belebten Polygonform abgeſchloſſen, um die
ſich gewöhnlich noch ein Kranz ebenfalls polygoniſch geſchloſſener Kapellen
herumlegt, und, was das Wichtigſte iſt, die Pfeiler der Seitenſchiffe des
Langhauſes ſetzen ſich in ihm als ein Umgang fort und beleben ſo dieſen
durch den prachtvollen Hochaltar und die Chorſtühle geſchmückten Raum
mit einer Fülle von Formen, die in der reichen Concentrirung des hier
in einen Strahlenbündel zuſammenlaufenden Gewölbes ihren Gipfel findet.
Jene ſubjective, maleriſch perſpectiviſche Wirkung, die ſchon die Baſilika,
noch mehr der romaniſche Bau hatte, findet in dieſer Ausſtrahlung oder
Einſtrahlung nun ihr nicht mehr zweifelhaftes Ziel. — Das zweite weſent-
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