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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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Wie ein bunter, reicher Zelt-Teppich überzieht nun der malerische Orna-
mentenschmuck strahlend von Gold, Silber und Farbenpracht dieses Ganze.
Die Zeichnungen dieses Schmucks sind Geschlinge von stab-, band-, blumen-
artigen Formen, an sich kraus, aber von einem Gesetze gebunden, das
wie ein Magnet die ausgewichenen Ranken, Bänder, Linien, Stäbe zur
Wiederkehr nöthigt; das Auge verliert und sucht und findet den Faden,
der sich in unendlichen scharfsinnigen Verschiebungen und Verwicklungen
wie ein Räthsel verbirgt und wieder hervortritt (vergl. insbesondere den
trefflichen Abschnitt bei Schnaase a. a. O. B. III, S. 426 ff.). Das
Verbot der Nachbildung der menschlichen und thierischen Gestalt hat diese
Phantasie genöthigt, ihre Fülle in dieses Gebiet zu ergießen, das vom
arabischen Volke auch den Namen Arabeske bekommen hat. Es findet in diesen
Formen zwar keine regelmäßige Symmetrie statt wie im Krystall; aber nirgends
ist eine Naturform (Pflanze) in dem annähernden Grade der Natur nachge-
bildet, wie im classischen Ornament, es herrscht mitten im Spiel eine geometrische
Stylisirung, die Brechung aller Winkel erinnert an die Entkantung im
Krystall und ein achsenbildender Mittelpunct tritt zwar meist nicht förmlich
hervor, wirkt aber in der Weise verborgener Anziehung in jenem Gesetze
der Wiederkehr. Es ist ein Gerinnen des einfach Flüssigen und natürlich
Fortlaufenden in der classischen Architektur, ein Anschießungs-, ein geome-
trisches Umstellungs- und Zusammenstellungs-Prinzip, das wir in strengerer
Weise im europäisch mittelalterlichen Baustyl werden auftreten sehen, nicht
ohne Einfluß des Maurischen in den Kreuzzügen, aber zugleich aus
tieferem innern Grunde. Doch überhaupt und allgemeiner theilt sich auch
das Streben der Durchbrechung, Verwandlung des Constructiven in ein
Decoratives dem Abendlande mit, nur daß es hier als Moment in einem
Höheren aufgeht. Endlich erwähnen wir noch das Wiederauftauchen des
Höhestrebens im schlanken Thurmbau des Minarets.

§. 589.

Die erste wesentliche Fortbildung dieser Elemente geschieht im roma-
nischen
Style. Derselbe nimmt den abendländischen Langbau der Basilika auf,
verstärkt aber seine Höhe und vermittelt ihn mit dem morgenländischen Hochbau
zunächst in unvollkommener Weise durch die über die Vierung zwischen dem
verlängerten Chor, dem nun stehend gewordenen Querschiff und dem Langschiff
übergewölbte Kuppel. Ungleich tiefer aber versöhnt er jenen Gegensatz, hiemit
auch den Gegensatz der runden und geraden Linie, der Länge und Breite in
der nunmehr durchgeführten Gliederung der Decke zum halbkreisförmigen,
zwischen Gurtbögen in einem Uetze von Quadraten gespannten Kreuzgewölbe.
Diese Versöhnung wird durch die Wechselaufhebung der Schwere, durch den
Uebergriff der Gliederung zwischen Gewölbe und Stütze zugleich zu einer neuen,

Wie ein bunter, reicher Zelt-Teppich überzieht nun der maleriſche Orna-
mentenſchmuck ſtrahlend von Gold, Silber und Farbenpracht dieſes Ganze.
Die Zeichnungen dieſes Schmucks ſind Geſchlinge von ſtab-, band-, blumen-
artigen Formen, an ſich kraus, aber von einem Geſetze gebunden, das
wie ein Magnet die ausgewichenen Ranken, Bänder, Linien, Stäbe zur
Wiederkehr nöthigt; das Auge verliert und ſucht und findet den Faden,
der ſich in unendlichen ſcharfſinnigen Verſchiebungen und Verwicklungen
wie ein Räthſel verbirgt und wieder hervortritt (vergl. insbeſondere den
trefflichen Abſchnitt bei Schnaaſe a. a. O. B. III, S. 426 ff.). Das
Verbot der Nachbildung der menſchlichen und thieriſchen Geſtalt hat dieſe
Phantaſie genöthigt, ihre Fülle in dieſes Gebiet zu ergießen, das vom
arabiſchen Volke auch den Namen Arabeske bekommen hat. Es findet in dieſen
Formen zwar keine regelmäßige Symmetrie ſtatt wie im Kryſtall; aber nirgends
iſt eine Naturform (Pflanze) in dem annähernden Grade der Natur nachge-
bildet, wie im claſſiſchen Ornament, es herrſcht mitten im Spiel eine geometriſche
Styliſirung, die Brechung aller Winkel erinnert an die Entkantung im
Kryſtall und ein achſenbildender Mittelpunct tritt zwar meiſt nicht förmlich
hervor, wirkt aber in der Weiſe verborgener Anziehung in jenem Geſetze
der Wiederkehr. Es iſt ein Gerinnen des einfach Flüſſigen und natürlich
Fortlaufenden in der claſſiſchen Architektur, ein Anſchießungs-, ein geome-
triſches Umſtellungs- und Zuſammenſtellungs-Prinzip, das wir in ſtrengerer
Weiſe im europäiſch mittelalterlichen Bauſtyl werden auftreten ſehen, nicht
ohne Einfluß des Mauriſchen in den Kreuzzügen, aber zugleich aus
tieferem innern Grunde. Doch überhaupt und allgemeiner theilt ſich auch
das Streben der Durchbrechung, Verwandlung des Conſtructiven in ein
Decoratives dem Abendlande mit, nur daß es hier als Moment in einem
Höheren aufgeht. Endlich erwähnen wir noch das Wiederauftauchen des
Höheſtrebens im ſchlanken Thurmbau des Minarets.

§. 589.

Die erſte weſentliche Fortbildung dieſer Elemente geſchieht im roma-
niſchen
Style. Derſelbe nimmt den abendländiſchen Langbau der Baſilika auf,
verſtärkt aber ſeine Höhe und vermittelt ihn mit dem morgenländiſchen Hochbau
zunächſt in unvollkommener Weiſe durch die über die Vierung zwiſchen dem
verlängerten Chor, dem nun ſtehend gewordenen Querſchiff und dem Langſchiff
übergewölbte Kuppel. Ungleich tiefer aber verſöhnt er jenen Gegenſatz, hiemit
auch den Gegenſatz der runden und geraden Linie, der Länge und Breite in
der nunmehr durchgeführten Gliederung der Decke zum halbkreisförmigen,
zwiſchen Gurtbögen in einem Uetze von Quadraten geſpannten Kreuzgewölbe.
Dieſe Verſöhnung wird durch die Wechſelaufhebung der Schwere, durch den
Uebergriff der Gliederung zwiſchen Gewölbe und Stütze zugleich zu einer neuen,

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[304/0144] Wie ein bunter, reicher Zelt-Teppich überzieht nun der maleriſche Orna- mentenſchmuck ſtrahlend von Gold, Silber und Farbenpracht dieſes Ganze. Die Zeichnungen dieſes Schmucks ſind Geſchlinge von ſtab-, band-, blumen- artigen Formen, an ſich kraus, aber von einem Geſetze gebunden, das wie ein Magnet die ausgewichenen Ranken, Bänder, Linien, Stäbe zur Wiederkehr nöthigt; das Auge verliert und ſucht und findet den Faden, der ſich in unendlichen ſcharfſinnigen Verſchiebungen und Verwicklungen wie ein Räthſel verbirgt und wieder hervortritt (vergl. insbeſondere den trefflichen Abſchnitt bei Schnaaſe a. a. O. B. III, S. 426 ff.). Das Verbot der Nachbildung der menſchlichen und thieriſchen Geſtalt hat dieſe Phantaſie genöthigt, ihre Fülle in dieſes Gebiet zu ergießen, das vom arabiſchen Volke auch den Namen Arabeske bekommen hat. Es findet in dieſen Formen zwar keine regelmäßige Symmetrie ſtatt wie im Kryſtall; aber nirgends iſt eine Naturform (Pflanze) in dem annähernden Grade der Natur nachge- bildet, wie im claſſiſchen Ornament, es herrſcht mitten im Spiel eine geometriſche Styliſirung, die Brechung aller Winkel erinnert an die Entkantung im Kryſtall und ein achſenbildender Mittelpunct tritt zwar meiſt nicht förmlich hervor, wirkt aber in der Weiſe verborgener Anziehung in jenem Geſetze der Wiederkehr. Es iſt ein Gerinnen des einfach Flüſſigen und natürlich Fortlaufenden in der claſſiſchen Architektur, ein Anſchießungs-, ein geome- triſches Umſtellungs- und Zuſammenſtellungs-Prinzip, das wir in ſtrengerer Weiſe im europäiſch mittelalterlichen Bauſtyl werden auftreten ſehen, nicht ohne Einfluß des Mauriſchen in den Kreuzzügen, aber zugleich aus tieferem innern Grunde. Doch überhaupt und allgemeiner theilt ſich auch das Streben der Durchbrechung, Verwandlung des Conſtructiven in ein Decoratives dem Abendlande mit, nur daß es hier als Moment in einem Höheren aufgeht. Endlich erwähnen wir noch das Wiederauftauchen des Höheſtrebens im ſchlanken Thurmbau des Minarets. §. 589. Die erſte weſentliche Fortbildung dieſer Elemente geſchieht im roma- niſchen Style. Derſelbe nimmt den abendländiſchen Langbau der Baſilika auf, verſtärkt aber ſeine Höhe und vermittelt ihn mit dem morgenländiſchen Hochbau zunächſt in unvollkommener Weiſe durch die über die Vierung zwiſchen dem verlängerten Chor, dem nun ſtehend gewordenen Querſchiff und dem Langſchiff übergewölbte Kuppel. Ungleich tiefer aber verſöhnt er jenen Gegenſatz, hiemit auch den Gegenſatz der runden und geraden Linie, der Länge und Breite in der nunmehr durchgeführten Gliederung der Decke zum halbkreisförmigen, zwiſchen Gurtbögen in einem Uetze von Quadraten geſpannten Kreuzgewölbe. Dieſe Verſöhnung wird durch die Wechſelaufhebung der Schwere, durch den Uebergriff der Gliederung zwiſchen Gewölbe und Stütze zugleich zu einer neuen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/144>, abgerufen am 21.11.2024.