Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
der Zuschauer hinlänglich abgehalten ist, an die breite und unreine 2. Die Bedingungen ihrer Freiheit: das Verhältniß des Künstlers zum Zuschauer. §. 502. Von den drei in §. 492 zusammengestellten Anforderungen an den Künstler1 1. Es sind die Anforderungen des Zuschauers, des auf's Neue her-
der Zuſchauer hinlänglich abgehalten iſt, an die breite und unreine 2. Die Bedingungen ihrer Freiheit: das Verhältniß des Künſtlers zum Zuſchauer. §. 502. Von den drei in §. 492 zuſammengeſtellten Anforderungen an den Künſtler1 1. Es ſind die Anforderungen des Zuſchauers, des auf’s Neue her- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0065" n="53"/> der Zuſchauer hinlänglich abgehalten iſt, an die breite und unreine<lb/> Selbſtändigkeit des Lebens neben dem Kunſtwerk ſich mit einer der<lb/> Täuſchung ſchädlichen Beſtimmtheit zu erinnern. An dieſer Landſchaft<lb/> eine Spanne Wald, Land, Waſſer, in jenem Sittenbild oder geſchichtlichen<lb/> Bild ein paar Figuren oder eine angedeutete Maſſe Figuren, in dieſem<lb/> Muſikwerk eine Tonreihe im Finale, in jenem Drama eine Scene muß<lb/> weggeſchnitten werden, denn der Künſtler fühlt, daß dadurch eine Breite,<lb/> eine Lagune entſteht, welche an die Stelle der idealen Perſpective eine<lb/> ſchwungloſe, matte ſetzt. Hätte z. B. Shakespeare am Schluſſe des Lear<lb/> nicht blos angedeutet, daß die Uebel des brittiſchen Staats geheilt werden<lb/> ſollen, ſondern noch eine oder ein paar Scenen eingeführt, worin Hand-<lb/> lungen zu dieſem Zweck dargeſtellt geweſen wären, ſo hätten wir uns zu<lb/> beſtimmt erinnert, daß dieſer Staat ja in der Geſchichte fortdauerte, daß<lb/> auf dieſe Herſtellung neue Störungen folgen mußten u. ſ. f.: wir hätten<lb/> uns dann in der Geſchichte mit all ihren Fragen befunden, ſtatt in der<lb/> Poeſie. Der Ramen iſt nicht zufällig, die äußere Grenze iſt die ſichtbare<lb/> Beruhigung des Ganzen, das ſich von ſeinem Kern bis zu dieſer und<lb/> keiner andern Grenze erweitern mußte. Es iſt klar, wie dieſes Geſetz von<lb/> dem Ausſcheiden alles Stoffartigen ſich unterſcheidet: wir nehmen hier an,<lb/> daß die weiteren Stellen an der Grenze, welche ſich als überflüßig er-<lb/> weiſen, an ſich ganz künſtleriſch behandelt wären, daß ſie aber trotz dieſer<lb/> Behandlung das Austönen des Ganzen über das Maaß verlängern.</hi> </p> </div> </div><lb/> <div n="6"> <head>2.<lb/><hi rendition="#g">Die Bedingungen ihrer Freiheit: das Verhältniß des<lb/> Künſtlers zum Zuſchauer</hi>.</head><lb/> <div n="7"> <head>§. 502.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Von den drei in §. 492 zuſammengeſtellten Anforderungen an den Künſtler<note place="right">1</note><lb/> kommt die erſte, die Rückſicht <choice><sic>anf</sic><corr>auf</corr></choice> den Zuſchauer, vorzüglich bei der Conception<lb/> und Compoſition in Betracht. Sittlich betrachtet ſoll dieß Verhältniß die<note place="right">2</note><lb/> Reinheit bewahren, daß die allgemeine Verpflichtung des Künſtlers (§. 487)<lb/> nie zur unfreien Abhängigkeit vom Publikum wird, ſondern in der Wechſel-<lb/> wirkung zwiſchen beiden die Kunſt ihre Selbſtändigkeit als bildende und<lb/> leitende Macht behauptet; es handelt ſich aber allgemein von den Bedingungen,<lb/> unter welchen ſich die künſtleriſche Thätigkeit frei bewegen kann.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Es ſind die Anforderungen des Zuſchauers, des auf’s Neue her-<lb/> vortretenden Naturſchönen und des Materials, zwiſchen die wir in §. 492<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [53/0065]
der Zuſchauer hinlänglich abgehalten iſt, an die breite und unreine
Selbſtändigkeit des Lebens neben dem Kunſtwerk ſich mit einer der
Täuſchung ſchädlichen Beſtimmtheit zu erinnern. An dieſer Landſchaft
eine Spanne Wald, Land, Waſſer, in jenem Sittenbild oder geſchichtlichen
Bild ein paar Figuren oder eine angedeutete Maſſe Figuren, in dieſem
Muſikwerk eine Tonreihe im Finale, in jenem Drama eine Scene muß
weggeſchnitten werden, denn der Künſtler fühlt, daß dadurch eine Breite,
eine Lagune entſteht, welche an die Stelle der idealen Perſpective eine
ſchwungloſe, matte ſetzt. Hätte z. B. Shakespeare am Schluſſe des Lear
nicht blos angedeutet, daß die Uebel des brittiſchen Staats geheilt werden
ſollen, ſondern noch eine oder ein paar Scenen eingeführt, worin Hand-
lungen zu dieſem Zweck dargeſtellt geweſen wären, ſo hätten wir uns zu
beſtimmt erinnert, daß dieſer Staat ja in der Geſchichte fortdauerte, daß
auf dieſe Herſtellung neue Störungen folgen mußten u. ſ. f.: wir hätten
uns dann in der Geſchichte mit all ihren Fragen befunden, ſtatt in der
Poeſie. Der Ramen iſt nicht zufällig, die äußere Grenze iſt die ſichtbare
Beruhigung des Ganzen, das ſich von ſeinem Kern bis zu dieſer und
keiner andern Grenze erweitern mußte. Es iſt klar, wie dieſes Geſetz von
dem Ausſcheiden alles Stoffartigen ſich unterſcheidet: wir nehmen hier an,
daß die weiteren Stellen an der Grenze, welche ſich als überflüßig er-
weiſen, an ſich ganz künſtleriſch behandelt wären, daß ſie aber trotz dieſer
Behandlung das Austönen des Ganzen über das Maaß verlängern.
2.
Die Bedingungen ihrer Freiheit: das Verhältniß des
Künſtlers zum Zuſchauer.
§. 502.
Von den drei in §. 492 zuſammengeſtellten Anforderungen an den Künſtler
kommt die erſte, die Rückſicht auf den Zuſchauer, vorzüglich bei der Conception
und Compoſition in Betracht. Sittlich betrachtet ſoll dieß Verhältniß die
Reinheit bewahren, daß die allgemeine Verpflichtung des Künſtlers (§. 487)
nie zur unfreien Abhängigkeit vom Publikum wird, ſondern in der Wechſel-
wirkung zwiſchen beiden die Kunſt ihre Selbſtändigkeit als bildende und
leitende Macht behauptet; es handelt ſich aber allgemein von den Bedingungen,
unter welchen ſich die künſtleriſche Thätigkeit frei bewegen kann.
1. Es ſind die Anforderungen des Zuſchauers, des auf’s Neue her-
vortretenden Naturſchönen und des Materials, zwiſchen die wir in §. 492
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