Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.§. 500. 1 Die so sich herstellende Einheit soll aber überhaupt eine lebendige sein, 1. Es darf hier aus der Lehre von den Künsten so viel voraus- §. 500. 1 Die ſo ſich herſtellende Einheit ſoll aber überhaupt eine lebendige ſein, 1. Es darf hier aus der Lehre von den Künſten ſo viel voraus- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <pb facs="#f0056" n="44"/> <div n="7"> <head>§. 500.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">Die ſo ſich herſtellende Einheit ſoll aber überhaupt eine lebendige ſein,<lb/> d. h. ſie ſoll das ſtufenförmig Verſchiedene, das gegenſätzlich oder unterſchiedlich<lb/> Contraſtirende in einem Fluße der Bewegung fortführen, worin die Glieder in<lb/> freier Entwicklung ungleich fortrücken, in beſtimmten Ruhepuncten ſtille ſtehen,<lb/> zuſammentreffen, dann, um neuen Reichthum zu entfalten, abermals auseinander-<lb/> gehen und endlich alle in Eine Wirkung befriedigt ſich ſammeln: ein Geſetz<lb/> des <hi rendition="#g">Rhythmus</hi>, welches durch das Ganze gehend in den Theilen als unter-<lb/><note place="left">2</note>geordneten Einheiten ſich wiederholen muß. In dem ſo belebten Ganzen wird<lb/> ſich, je reicher das Kunſtwerk, deſto ſichtbarer der nach den bisher aufgeſtellten<lb/> Compoſitionsgeſetzen gegliederte Inhalt durch drei Hauptabſätze bewegen, die<lb/> unter ſich durch anſteigende und abſteigende Linien wieder vermittelt ſind: den<lb/> Anfang, der die Entfaltungs-Keime aufzeigt, die Mitte, welche die Contraſte<lb/> entfeſſelt, den Schluß, der die Verwicklung löst.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Es darf hier aus der Lehre von den Künſten ſo viel voraus-<lb/> geſetzt werden, um auszuſprechen, daß alle Künſte die Strahlen Einer<lb/> Sonne ſind und daß ſie das, was in der Einheit der Kunſt an ſich<lb/> begriffen iſt, in einer Theilung auseinanderlegen, worin jede das Ganze<lb/> darſtellt, allerdings aber der einen Kunſtform mehr dieß, der andern<lb/> mehr jenes der im Ganzen liegenden Momente zur Erſcheinung zu brin-<lb/> gen obliegt: den bildenden Künſten die Geſtalt, der Muſik die Bewegung,<lb/> der Dichtkunſt die Einheit der Bewegung und der (hier nur der innern<lb/> Anſchauung vorgeführten) Geſtalt. Da nun das Compoſitionsgeſetz, in<lb/> welchem ſich hier die bisher aufgeſtellten vereinigen und worin wir den<lb/> Schluß der Anm. <hi rendition="#sub">3.</hi> zu dem vorherigen §. wieder aufnehmen, weſentlich<lb/> ein Geſetz der Bewegung iſt, ſo erhellt, daß es allerdings namentlich die<lb/> Muſik iſt, in welcher es ſeinen Ausdruck findet, aber eben in dem Sinne,<lb/> daß das rhythmiſch Bewegte in allen Künſten ſich in der Muſik <hi rendition="#g">entbin-<lb/> det</hi>. Die Muſik ſtellt das verhüllte rhythmiſche Leben, das Bewegungs-<lb/> geheimniß in allen übrigen Kunſtformen heraus, gibt ihm ausdrückliche<lb/> Form, organiſirt es und leiht daher auch zur Bezeichnung aller in dieſen<lb/> Punct einſchlagenden Eigenſchaften jeder Kunſt das Allgemeine ihrer<lb/> Terminologie. Es iſt zunächſt der Takt, wodurch ſie die fortfließende<lb/> Tonreihe in wiederkehrende Einſchnitte theilt und in deſſen accentuirtem,<lb/> die Zeittheile durch die Gewichtverſtärkung des Einen Moments markiren-<lb/> dem Maaße ſie zugleich verſchiedene gleichzeitig erſchallende Töne, Stim-<lb/> men, Melodien, Kraftmaaße, Längen und Kürzen zuſammenfaßt; aber dieß<lb/> iſt nur erſt die abſtracte Seite, der lebendige Rhythmus iſt der Strom<lb/> des concreten muſikaliſchen Kunſtwerks, der einen Grundgedanken in reiche<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [44/0056]
§. 500.
Die ſo ſich herſtellende Einheit ſoll aber überhaupt eine lebendige ſein,
d. h. ſie ſoll das ſtufenförmig Verſchiedene, das gegenſätzlich oder unterſchiedlich
Contraſtirende in einem Fluße der Bewegung fortführen, worin die Glieder in
freier Entwicklung ungleich fortrücken, in beſtimmten Ruhepuncten ſtille ſtehen,
zuſammentreffen, dann, um neuen Reichthum zu entfalten, abermals auseinander-
gehen und endlich alle in Eine Wirkung befriedigt ſich ſammeln: ein Geſetz
des Rhythmus, welches durch das Ganze gehend in den Theilen als unter-
geordneten Einheiten ſich wiederholen muß. In dem ſo belebten Ganzen wird
ſich, je reicher das Kunſtwerk, deſto ſichtbarer der nach den bisher aufgeſtellten
Compoſitionsgeſetzen gegliederte Inhalt durch drei Hauptabſätze bewegen, die
unter ſich durch anſteigende und abſteigende Linien wieder vermittelt ſind: den
Anfang, der die Entfaltungs-Keime aufzeigt, die Mitte, welche die Contraſte
entfeſſelt, den Schluß, der die Verwicklung löst.
1. Es darf hier aus der Lehre von den Künſten ſo viel voraus-
geſetzt werden, um auszuſprechen, daß alle Künſte die Strahlen Einer
Sonne ſind und daß ſie das, was in der Einheit der Kunſt an ſich
begriffen iſt, in einer Theilung auseinanderlegen, worin jede das Ganze
darſtellt, allerdings aber der einen Kunſtform mehr dieß, der andern
mehr jenes der im Ganzen liegenden Momente zur Erſcheinung zu brin-
gen obliegt: den bildenden Künſten die Geſtalt, der Muſik die Bewegung,
der Dichtkunſt die Einheit der Bewegung und der (hier nur der innern
Anſchauung vorgeführten) Geſtalt. Da nun das Compoſitionsgeſetz, in
welchem ſich hier die bisher aufgeſtellten vereinigen und worin wir den
Schluß der Anm. 3. zu dem vorherigen §. wieder aufnehmen, weſentlich
ein Geſetz der Bewegung iſt, ſo erhellt, daß es allerdings namentlich die
Muſik iſt, in welcher es ſeinen Ausdruck findet, aber eben in dem Sinne,
daß das rhythmiſch Bewegte in allen Künſten ſich in der Muſik entbin-
det. Die Muſik ſtellt das verhüllte rhythmiſche Leben, das Bewegungs-
geheimniß in allen übrigen Kunſtformen heraus, gibt ihm ausdrückliche
Form, organiſirt es und leiht daher auch zur Bezeichnung aller in dieſen
Punct einſchlagenden Eigenſchaften jeder Kunſt das Allgemeine ihrer
Terminologie. Es iſt zunächſt der Takt, wodurch ſie die fortfließende
Tonreihe in wiederkehrende Einſchnitte theilt und in deſſen accentuirtem,
die Zeittheile durch die Gewichtverſtärkung des Einen Moments markiren-
dem Maaße ſie zugleich verſchiedene gleichzeitig erſchallende Töne, Stim-
men, Melodien, Kraftmaaße, Längen und Kürzen zuſammenfaßt; aber dieß
iſt nur erſt die abſtracte Seite, der lebendige Rhythmus iſt der Strom
des concreten muſikaliſchen Kunſtwerks, der einen Grundgedanken in reiche
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |