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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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b.
Die Vorarbeit zur Ausführung.
§. 493.

1.

Der erste Schritt des Uebergangs zur Ausführung ist eine Willensregung,
welche durch das Bewußtsein entsteht, daß der zum innern Bilde gewordene
Stoff einen Reichthum an Schönheiten in sich schließt, die das vorschwebende
Material aufzunehmen geeignet ist: d. h. ein bestimmter Stoff wird Motiv.
Daraus erwächst der Entschluß der Darstellung und erfaßt mit diesem Entschluße
2.heißt das innere Bild Conception. Die erste Probe der Objectivität hat
dieser geistige Entwurf zu bestehen in der vorläufigen Form eines Umrißes:
der Skizze.

1. Der §. führt zunächst zwei Begriffe ein, welche die Momente
des Heraustritts aus der innern Idealwelt auf jene Schwelle der eigent-
lichen äußern Darstellung bezeichnen, die unter dem bescheidenen Namen
"Vorarbeit zur Ausführung" eine Reihe von Acten der größten Bedeu-
tung umfaßt. Der erste dieser Begriffe ist der des Motivs. Um
diesen etwas schwierigen Begriff richtig zu fassen, halte man vor
Allem eine anderweitige Bedeutung des Wortes, das aber dann
genauer Motivirung heißt, ferne. Dieser Begriff tritt auf einem
Puncte ein, wo von dem innern Bilde bereits um ein Stadium weiter
vorgeschritten ist, und es werden durch ihn die Formen, Zustände, Hand-
lungen, die zur Darstellung kommen, der Frage unterworfen, ob sie hin-
reichend begründet seien durch die Bedingungen, welche in demselben
ästhetischen Ganzen zum Vorschein kommen oder als hinter ihm liegend
angenommen werden. Bei dem Begriffe der Motivirung wird
rückwärts gesehen, bei dem Begriffe des Motivs aber vorwärts; dort
fragt es sich: ist kein Theil des Kunstwerks unmotivirt? hier fragt es
sich: sind die Motive benützt und enthält überhaupt der Stoff deren eine
gewisse Summe? Der Begriff des Motivs, der uns hier vorliegt, enthält
ein allgemeines, ein besonderes und ein einzelnes Moment. Im allge-
meinen Sinne heißt der Grundgedanke des im Geiste des Künstlers schon
erzeugten Bildes Motiv, sofern der Künstler, wenn es nun zur Darstel-
lung kommen soll, denselben noch einmal beschaut mit der Frage, ob der
von ihm erfaßte Stoff fruchtbar, ob er eine reiche Quelle von Schönheit
sei. So ist z. B. der Kindermord zu Bethlehem ein gutes Motiv, denn
diese Sage gibt auf den ersten Moment zu erkennen, daß hier eine
Situation gegeben ist, worin der Gegensatz von Grausamkeit und Mutter-

b.
Die Vorarbeit zur Ausführung.
§. 493.

1.

Der erſte Schritt des Uebergangs zur Ausführung iſt eine Willensregung,
welche durch das Bewußtſein entſteht, daß der zum innern Bilde gewordene
Stoff einen Reichthum an Schönheiten in ſich ſchließt, die das vorſchwebende
Material aufzunehmen geeignet iſt: d. h. ein beſtimmter Stoff wird Motiv.
Daraus erwächst der Entſchluß der Darſtellung und erfaßt mit dieſem Entſchluße
2.heißt das innere Bild Conception. Die erſte Probe der Objectivität hat
dieſer geiſtige Entwurf zu beſtehen in der vorläufigen Form eines Umrißes:
der Skizze.

1. Der §. führt zunächſt zwei Begriffe ein, welche die Momente
des Heraustritts aus der innern Idealwelt auf jene Schwelle der eigent-
lichen äußern Darſtellung bezeichnen, die unter dem beſcheidenen Namen
„Vorarbeit zur Ausführung“ eine Reihe von Acten der größten Bedeu-
tung umfaßt. Der erſte dieſer Begriffe iſt der des Motivs. Um
dieſen etwas ſchwierigen Begriff richtig zu faſſen, halte man vor
Allem eine anderweitige Bedeutung des Wortes, das aber dann
genauer Motivirung heißt, ferne. Dieſer Begriff tritt auf einem
Puncte ein, wo von dem innern Bilde bereits um ein Stadium weiter
vorgeſchritten iſt, und es werden durch ihn die Formen, Zuſtände, Hand-
lungen, die zur Darſtellung kommen, der Frage unterworfen, ob ſie hin-
reichend begründet ſeien durch die Bedingungen, welche in demſelben
äſthetiſchen Ganzen zum Vorſchein kommen oder als hinter ihm liegend
angenommen werden. Bei dem Begriffe der Motivirung wird
rückwärts geſehen, bei dem Begriffe des Motivs aber vorwärts; dort
fragt es ſich: iſt kein Theil des Kunſtwerks unmotivirt? hier fragt es
ſich: ſind die Motive benützt und enthält überhaupt der Stoff deren eine
gewiſſe Summe? Der Begriff des Motivs, der uns hier vorliegt, enthält
ein allgemeines, ein beſonderes und ein einzelnes Moment. Im allge-
meinen Sinne heißt der Grundgedanke des im Geiſte des Künſtlers ſchon
erzeugten Bildes Motiv, ſofern der Künſtler, wenn es nun zur Darſtel-
lung kommen ſoll, denſelben noch einmal beſchaut mit der Frage, ob der
von ihm erfaßte Stoff fruchtbar, ob er eine reiche Quelle von Schönheit
ſei. So iſt z. B. der Kindermord zu Bethlehem ein gutes Motiv, denn
dieſe Sage gibt auf den erſten Moment zu erkennen, daß hier eine
Situation gegeben iſt, worin der Gegenſatz von Grauſamkeit und Mutter-

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[16/0028] b. Die Vorarbeit zur Ausführung. §. 493. Der erſte Schritt des Uebergangs zur Ausführung iſt eine Willensregung, welche durch das Bewußtſein entſteht, daß der zum innern Bilde gewordene Stoff einen Reichthum an Schönheiten in ſich ſchließt, die das vorſchwebende Material aufzunehmen geeignet iſt: d. h. ein beſtimmter Stoff wird Motiv. Daraus erwächst der Entſchluß der Darſtellung und erfaßt mit dieſem Entſchluße heißt das innere Bild Conception. Die erſte Probe der Objectivität hat dieſer geiſtige Entwurf zu beſtehen in der vorläufigen Form eines Umrißes: der Skizze. 1. Der §. führt zunächſt zwei Begriffe ein, welche die Momente des Heraustritts aus der innern Idealwelt auf jene Schwelle der eigent- lichen äußern Darſtellung bezeichnen, die unter dem beſcheidenen Namen „Vorarbeit zur Ausführung“ eine Reihe von Acten der größten Bedeu- tung umfaßt. Der erſte dieſer Begriffe iſt der des Motivs. Um dieſen etwas ſchwierigen Begriff richtig zu faſſen, halte man vor Allem eine anderweitige Bedeutung des Wortes, das aber dann genauer Motivirung heißt, ferne. Dieſer Begriff tritt auf einem Puncte ein, wo von dem innern Bilde bereits um ein Stadium weiter vorgeſchritten iſt, und es werden durch ihn die Formen, Zuſtände, Hand- lungen, die zur Darſtellung kommen, der Frage unterworfen, ob ſie hin- reichend begründet ſeien durch die Bedingungen, welche in demſelben äſthetiſchen Ganzen zum Vorſchein kommen oder als hinter ihm liegend angenommen werden. Bei dem Begriffe der Motivirung wird rückwärts geſehen, bei dem Begriffe des Motivs aber vorwärts; dort fragt es ſich: iſt kein Theil des Kunſtwerks unmotivirt? hier fragt es ſich: ſind die Motive benützt und enthält überhaupt der Stoff deren eine gewiſſe Summe? Der Begriff des Motivs, der uns hier vorliegt, enthält ein allgemeines, ein beſonderes und ein einzelnes Moment. Im allge- meinen Sinne heißt der Grundgedanke des im Geiſte des Künſtlers ſchon erzeugten Bildes Motiv, ſofern der Künſtler, wenn es nun zur Darſtel- lung kommen ſoll, denſelben noch einmal beſchaut mit der Frage, ob der von ihm erfaßte Stoff fruchtbar, ob er eine reiche Quelle von Schönheit ſei. So iſt z. B. der Kindermord zu Bethlehem ein gutes Motiv, denn dieſe Sage gibt auf den erſten Moment zu erkennen, daß hier eine Situation gegeben iſt, worin der Gegenſatz von Grauſamkeit und Mutter-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/28>, abgerufen am 13.11.2024.