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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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2.
Der provinzielle und nationale Styl.
§. 529.

Der Styl erweitert ſich aber von ſeinem individuellen und auf die ver-
einzelte Schule beſchränkten Ausgangspuncte zu ein[e]r ausgedehnteren Geltung
durch Ortsmechſel der Meiſter und Verbreitung der Schüler; ganze Volks-
ſtämme, ja Völker eignen ſich denſelben an, Schule heißt nun nicht mehr die
einzelne Werkſtätte als Bildungsanſtalt, ſondern die in dieſen weiten Kreiſen
herrſchende Kunſtweiſe, und indem der Grund dieſer Ausdehnung in einer
urſprünglichen Verwandtſchaft der ganzen Auffaſſung zu ſuchen iſt, kommt zu
Tage, daß die individuellen Urheber ſelbſt nur die Organe waren, durch die
ſich der Geiſt eines Stammes, Volkes in einer beſtimmten Zeit ſeinen Aus-
druck gab. Auch der unreife Styl und die bloße Manier gewinnen in dieſem
Zuſammenhang hiſtoriſche Berechtigung und objectives Gewicht.

1. Der §. zeigt zuerſt pragmatiſch die Verbreitung eines Styls,
einer Manier auf, wie dieß ſchon durch die Erwähnung der Gründung
von Werlſtätten durch Schüler und der Wanderung der Meiſter (zu
§. 520 und 521) vorbereitet iſt. Das Ganze einer ſolchen Fortpflan-
zung heißt nun Schule im erweiterten Sinne des Worts. Sie tritt zu-
nächſt örtlich auf im engeren Sinne einer bedeutenden Stadt (athenienſiſch,
argiviſch, ſikyoniſch, ſieneſiſch, florentiniſch, venetianiſch), erweitert ſich
naturgemäß über Provinzen und erſcheint nun beſtimmter als der Aus-
druck des Stamms eines Volks (joniſch, doriſch, umbriſch, lombardiſch,
niederdeutſch, oberdeutſch und innerhalb dieſer Unterſcheidung ſchwäbiſch,
fränkiſch u. ſ. f.), tritt aber allerdings in dem Grade, in welchem die
einzelnen Kräfte ſich in höchſten Wirkungen zuſammenfaſſen, ſporadiſch
auf, ſammelt ſich an künſtlichen Mittelpuncten und kann dann nicht mehr
mit einem örtlichen Namen, ſondern nur nach dem Meiſter, der Richtung,
dem früheren natürlichen Mittelpuncte bezeichnet werden. So kann nicht
wohl von einer römiſchen Malerſchule die Rede ſein (vergl. Rumohr
Ital. Forſch. B. II S. 211), denn päpſtliche Kunſtpflege hat in Rom
nur die Blüthe aller Fortſchritte, wie ſie ſich zuerſt in den einzelnen
Ländern Italiens entwickelt hatten, vereinigt, Raphael und M. Angelo,
die hier wirken und in den beſondern Stylen ihrer Schule die Momente
des ganzen italieniſchen Kunſtgeiſtes darſtellen, haben ſich in Florenz auf
ihre Höhe geſchwungen und ein anderer Strahl derſelben höchſten Ent-
wicklung wird von L. da Vinci nach Mailand getragen. In der neueren

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/142>, abgerufen am 06.01.2025.