Der Styl erweitert sich aber von seinem individuellen und auf die ver- einzelte Schule beschränkten Ausgangspuncte zu ein[e]r ausgedehnteren Geltung durch Ortsmechsel der Meister und Verbreitung der Schüler; ganze Volks- stämme, ja Völker eignen sich denselben an, Schule heißt nun nicht mehr die einzelne Werkstätte als Bildungsanstalt, sondern die in diesen weiten Kreisen herrschende Kunstweise, und indem der Grund dieser Ausdehnung in einer ursprünglichen Verwandtschaft der ganzen Auffassung zu suchen ist, kommt zu Tage, daß die individuellen Urheber selbst nur die Organe waren, durch die sich der Geist eines Stammes, Volkes in einer bestimmten Zeit seinen Aus- druck gab. Auch der unreife Styl und die bloße Manier gewinnen in diesem Zusammenhang historische Berechtigung und objectives Gewicht.
1. Der §. zeigt zuerst pragmatisch die Verbreitung eines Styls, einer Manier auf, wie dieß schon durch die Erwähnung der Gründung von Werlstätten durch Schüler und der Wanderung der Meister (zu §. 520 und 521) vorbereitet ist. Das Ganze einer solchen Fortpflan- zung heißt nun Schule im erweiterten Sinne des Worts. Sie tritt zu- nächst örtlich auf im engeren Sinne einer bedeutenden Stadt (atheniensisch, argivisch, sikyonisch, sienesisch, florentinisch, venetianisch), erweitert sich naturgemäß über Provinzen und erscheint nun bestimmter als der Aus- druck des Stamms eines Volks (jonisch, dorisch, umbrisch, lombardisch, niederdeutsch, oberdeutsch und innerhalb dieser Unterscheidung schwäbisch, fränkisch u. s. f.), tritt aber allerdings in dem Grade, in welchem die einzelnen Kräfte sich in höchsten Wirkungen zusammenfassen, sporadisch auf, sammelt sich an künstlichen Mittelpuncten und kann dann nicht mehr mit einem örtlichen Namen, sondern nur nach dem Meister, der Richtung, dem früheren natürlichen Mittelpuncte bezeichnet werden. So kann nicht wohl von einer römischen Malerschule die Rede sein (vergl. Rumohr Ital. Forsch. B. II S. 211), denn päpstliche Kunstpflege hat in Rom nur die Blüthe aller Fortschritte, wie sie sich zuerst in den einzelnen Ländern Italiens entwickelt hatten, vereinigt, Raphael und M. Angelo, die hier wirken und in den besondern Stylen ihrer Schule die Momente des ganzen italienischen Kunstgeistes darstellen, haben sich in Florenz auf ihre Höhe geschwungen und ein anderer Strahl derselben höchsten Ent- wicklung wird von L. da Vinci nach Mailand getragen. In der neueren
2. Der provinzielle und nationale Styl.
§. 529.
Der Styl erweitert ſich aber von ſeinem individuellen und auf die ver- einzelte Schule beſchränkten Ausgangspuncte zu ein[e]r ausgedehnteren Geltung durch Ortsmechſel der Meiſter und Verbreitung der Schüler; ganze Volks- ſtämme, ja Völker eignen ſich denſelben an, Schule heißt nun nicht mehr die einzelne Werkſtätte als Bildungsanſtalt, ſondern die in dieſen weiten Kreiſen herrſchende Kunſtweiſe, und indem der Grund dieſer Ausdehnung in einer urſprünglichen Verwandtſchaft der ganzen Auffaſſung zu ſuchen iſt, kommt zu Tage, daß die individuellen Urheber ſelbſt nur die Organe waren, durch die ſich der Geiſt eines Stammes, Volkes in einer beſtimmten Zeit ſeinen Aus- druck gab. Auch der unreife Styl und die bloße Manier gewinnen in dieſem Zuſammenhang hiſtoriſche Berechtigung und objectives Gewicht.
1. Der §. zeigt zuerſt pragmatiſch die Verbreitung eines Styls, einer Manier auf, wie dieß ſchon durch die Erwähnung der Gründung von Werlſtätten durch Schüler und der Wanderung der Meiſter (zu §. 520 und 521) vorbereitet iſt. Das Ganze einer ſolchen Fortpflan- zung heißt nun Schule im erweiterten Sinne des Worts. Sie tritt zu- nächſt örtlich auf im engeren Sinne einer bedeutenden Stadt (athenienſiſch, argiviſch, ſikyoniſch, ſieneſiſch, florentiniſch, venetianiſch), erweitert ſich naturgemäß über Provinzen und erſcheint nun beſtimmter als der Aus- druck des Stamms eines Volks (joniſch, doriſch, umbriſch, lombardiſch, niederdeutſch, oberdeutſch und innerhalb dieſer Unterſcheidung ſchwäbiſch, fränkiſch u. ſ. f.), tritt aber allerdings in dem Grade, in welchem die einzelnen Kräfte ſich in höchſten Wirkungen zuſammenfaſſen, ſporadiſch auf, ſammelt ſich an künſtlichen Mittelpuncten und kann dann nicht mehr mit einem örtlichen Namen, ſondern nur nach dem Meiſter, der Richtung, dem früheren natürlichen Mittelpuncte bezeichnet werden. So kann nicht wohl von einer römiſchen Malerſchule die Rede ſein (vergl. Rumohr Ital. Forſch. B. II S. 211), denn päpſtliche Kunſtpflege hat in Rom nur die Blüthe aller Fortſchritte, wie ſie ſich zuerſt in den einzelnen Ländern Italiens entwickelt hatten, vereinigt, Raphael und M. Angelo, die hier wirken und in den beſondern Stylen ihrer Schule die Momente des ganzen italieniſchen Kunſtgeiſtes darſtellen, haben ſich in Florenz auf ihre Höhe geſchwungen und ein anderer Strahl derſelben höchſten Ent- wicklung wird von L. da Vinci nach Mailand getragen. In der neueren
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Der provinzielle und nationale Styl.
§. 529.
Der Styl erweitert ſich aber von ſeinem individuellen und auf die ver-
einzelte Schule beſchränkten Ausgangspuncte zu einer ausgedehnteren Geltung
durch Ortsmechſel der Meiſter und Verbreitung der Schüler; ganze Volks-
ſtämme, ja Völker eignen ſich denſelben an, Schule heißt nun nicht mehr die
einzelne Werkſtätte als Bildungsanſtalt, ſondern die in dieſen weiten Kreiſen
herrſchende Kunſtweiſe, und indem der Grund dieſer Ausdehnung in einer
urſprünglichen Verwandtſchaft der ganzen Auffaſſung zu ſuchen iſt, kommt zu
Tage, daß die individuellen Urheber ſelbſt nur die Organe waren, durch die
ſich der Geiſt eines Stammes, Volkes in einer beſtimmten Zeit ſeinen Aus-
druck gab. Auch der unreife Styl und die bloße Manier gewinnen in dieſem
Zuſammenhang hiſtoriſche Berechtigung und objectives Gewicht.
1. Der §. zeigt zuerſt pragmatiſch die Verbreitung eines Styls,
einer Manier auf, wie dieß ſchon durch die Erwähnung der Gründung
von Werlſtätten durch Schüler und der Wanderung der Meiſter (zu
§. 520 und 521) vorbereitet iſt. Das Ganze einer ſolchen Fortpflan-
zung heißt nun Schule im erweiterten Sinne des Worts. Sie tritt zu-
nächſt örtlich auf im engeren Sinne einer bedeutenden Stadt (athenienſiſch,
argiviſch, ſikyoniſch, ſieneſiſch, florentiniſch, venetianiſch), erweitert ſich
naturgemäß über Provinzen und erſcheint nun beſtimmter als der Aus-
druck des Stamms eines Volks (joniſch, doriſch, umbriſch, lombardiſch,
niederdeutſch, oberdeutſch und innerhalb dieſer Unterſcheidung ſchwäbiſch,
fränkiſch u. ſ. f.), tritt aber allerdings in dem Grade, in welchem die
einzelnen Kräfte ſich in höchſten Wirkungen zuſammenfaſſen, ſporadiſch
auf, ſammelt ſich an künſtlichen Mittelpuncten und kann dann nicht mehr
mit einem örtlichen Namen, ſondern nur nach dem Meiſter, der Richtung,
dem früheren natürlichen Mittelpuncte bezeichnet werden. So kann nicht
wohl von einer römiſchen Malerſchule die Rede ſein (vergl. Rumohr
Ital. Forſch. B. II S. 211), denn päpſtliche Kunſtpflege hat in Rom
nur die Blüthe aller Fortſchritte, wie ſie ſich zuerſt in den einzelnen
Ländern Italiens entwickelt hatten, vereinigt, Raphael und M. Angelo,
die hier wirken und in den beſondern Stylen ihrer Schule die Momente
des ganzen italieniſchen Kunſtgeiſtes darſtellen, haben ſich in Florenz auf
ihre Höhe geſchwungen und ein anderer Strahl derſelben höchſten Ent-
wicklung wird von L. da Vinci nach Mailand getragen. In der neueren
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/142>, abgerufen am 06.01.2025.
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