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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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innerung, sodann die freie Hervorrufung durch das Sichbesinnen. Beide
Formen, wiewohl mit der letzteren der Geist sich der Bilder frei zu be-
mächtigen anfängt, sind sich darin gleich, daß eine Reihe entsteht, indem
das erste Bild ein zweites hervorruft, dieß ein drittes u. s. w., wodurch
nun jene unstete Jagd beginnt, die man sonst Ideen-Assoziation nannte.
So lange wir nämlich den concreten Geist noch außer Augen lassen, der
mit Weisheit Ordnung schafft, ist auch bei dem Besinnen nur der Anfang
ein freier Act; die Einbildungskraft als solche, einmal in Bewegung ge-
setzt, spielt fort. Nun fragt sich, nach welcher Ordnung die Bilder sich
anziehen? Bekanntlich sowohl nach der objectiven Ordnung ihrer ur-
sprünglich in der Anschauung gegebenen Verbindung, als auch nach allen Ka-
tegorieen. Die Kategorieen sind zunächst subjectiv, aber auch sie ebenso-
sehr objective Verhältnißformen. Welches dieser Anziehungsgesetze wirke,
ist zufällig, unbestimmbar; sie schießen bunt und kraus durcheinander. Habe
nun ich dieß Spiel in der Macht, oder es mich? Beides ist wahr und
dieß eben ist der Begriff der Willkühr; ein Knäuel von Nachbarschaften
und Wahlverwandschaften, worin die Dinge an sich stehen, wirrt sich zu-
sammen mit einem zunächst von der Freiheit gegebenen Anfang, dann
wiederholten schwachen Eingriffen derselben, schließlich aber mit allem dem,
worin das freie Subject unfrei ist, mit seinen sinnlichen Wünschen und
Einfällen, welche nach ihrem Belieben die Naturordnung durch falsche
Einschiebungen der an sich objectiv gültigen Kategorieen durchbrechen und
zu blauen Möglichkeiten mischen. Diese subjectiv stoffartige Seite ist im
Folgenden ausdrücklich aufzunehmen; zunächst handelt es sich um die Ver-
änderung, welche nun mit den Bildern vor sich geht. Die Naturformen
werden durcheinander geworfen; das Thier kann reden, der Mensch kann
fliegen, der Körper hat keine Schwere und dieser ganze Mischmasch jagt
sich unstet in bunter Flucht; die Zeit wird nicht nur objectiv in den Ver-
hältnissen des Vorgestellten übersprungen, sondern das ganze Schattenspiel
huscht in sausendem Fluge am Geiste vorüber; der Geist macht sein Wesen,
die zeitliche Bewegung, im ersten Rausche gewaltsam geltend an der Na-
tur, wird daher trunken von seinem eigenen Zauber fortgerissen, der ihm
über den Kopf schwillt, wie Göthe's Zauberlehrling. Die Willkühr der
neuen Verbindungen ist nicht Schönheit; diese hebt die Naturformen nicht
auf, sondern läutert sie. Wird aber dennoch von diesen willkührlichen
Verbindungen Einiges hinübergenommen in die wahre Schöpfung der
Schönheit, wie Centauren, das Gefolge des Bacchus, Engel, Teufel, Ge-
spenster, Wunder aller Art, so ist wohl zu bedenken: erstens, daß diese
Geschöpfe zu den Stoffen gehören, welche die künstlerische Phantasie von
dem Volksglauben überkommt, welcher in dieser Richtung noch nicht wahr-
haft ästhetisch, sondern in der unreifen Weise der Einbildungskraft ge-

innerung, ſodann die freie Hervorrufung durch das Sichbeſinnen. Beide
Formen, wiewohl mit der letzteren der Geiſt ſich der Bilder frei zu be-
mächtigen anfängt, ſind ſich darin gleich, daß eine Reihe entſteht, indem
das erſte Bild ein zweites hervorruft, dieß ein drittes u. ſ. w., wodurch
nun jene unſtete Jagd beginnt, die man ſonſt Ideen-Aſſoziation nannte.
So lange wir nämlich den concreten Geiſt noch außer Augen laſſen, der
mit Weisheit Ordnung ſchafft, iſt auch bei dem Beſinnen nur der Anfang
ein freier Act; die Einbildungskraft als ſolche, einmal in Bewegung ge-
ſetzt, ſpielt fort. Nun fragt ſich, nach welcher Ordnung die Bilder ſich
anziehen? Bekanntlich ſowohl nach der objectiven Ordnung ihrer ur-
ſprünglich in der Anſchauung gegebenen Verbindung, als auch nach allen Ka-
tegorieen. Die Kategorieen ſind zunächſt ſubjectiv, aber auch ſie ebenſo-
ſehr objective Verhältnißformen. Welches dieſer Anziehungsgeſetze wirke,
iſt zufällig, unbeſtimmbar; ſie ſchießen bunt und kraus durcheinander. Habe
nun ich dieß Spiel in der Macht, oder es mich? Beides iſt wahr und
dieß eben iſt der Begriff der Willkühr; ein Knäuel von Nachbarſchaften
und Wahlverwandſchaften, worin die Dinge an ſich ſtehen, wirrt ſich zu-
ſammen mit einem zunächſt von der Freiheit gegebenen Anfang, dann
wiederholten ſchwachen Eingriffen derſelben, ſchließlich aber mit allem dem,
worin das freie Subject unfrei iſt, mit ſeinen ſinnlichen Wünſchen und
Einfällen, welche nach ihrem Belieben die Naturordnung durch falſche
Einſchiebungen der an ſich objectiv gültigen Kategorieen durchbrechen und
zu blauen Möglichkeiten miſchen. Dieſe ſubjectiv ſtoffartige Seite iſt im
Folgenden ausdrücklich aufzunehmen; zunächſt handelt es ſich um die Ver-
änderung, welche nun mit den Bildern vor ſich geht. Die Naturformen
werden durcheinander geworfen; das Thier kann reden, der Menſch kann
fliegen, der Körper hat keine Schwere und dieſer ganze Miſchmaſch jagt
ſich unſtet in bunter Flucht; die Zeit wird nicht nur objectiv in den Ver-
hältniſſen des Vorgeſtellten überſprungen, ſondern das ganze Schattenſpiel
huſcht in ſauſendem Fluge am Geiſte vorüber; der Geiſt macht ſein Weſen,
die zeitliche Bewegung, im erſten Rauſche gewaltſam geltend an der Na-
tur, wird daher trunken von ſeinem eigenen Zauber fortgeriſſen, der ihm
über den Kopf ſchwillt, wie Göthe’s Zauberlehrling. Die Willkühr der
neuen Verbindungen iſt nicht Schönheit; dieſe hebt die Naturformen nicht
auf, ſondern läutert ſie. Wird aber dennoch von dieſen willkührlichen
Verbindungen Einiges hinübergenommen in die wahre Schöpfung der
Schönheit, wie Centauren, das Gefolge des Bacchus, Engel, Teufel, Ge-
ſpenſter, Wunder aller Art, ſo iſt wohl zu bedenken: erſtens, daß dieſe
Geſchöpfe zu den Stoffen gehören, welche die künſtleriſche Phantaſie von
dem Volksglauben überkommt, welcher in dieſer Richtung noch nicht wahr-
haft äſthetiſch, ſondern in der unreifen Weiſe der Einbildungskraft ge-

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[326/0040] innerung, ſodann die freie Hervorrufung durch das Sichbeſinnen. Beide Formen, wiewohl mit der letzteren der Geiſt ſich der Bilder frei zu be- mächtigen anfängt, ſind ſich darin gleich, daß eine Reihe entſteht, indem das erſte Bild ein zweites hervorruft, dieß ein drittes u. ſ. w., wodurch nun jene unſtete Jagd beginnt, die man ſonſt Ideen-Aſſoziation nannte. So lange wir nämlich den concreten Geiſt noch außer Augen laſſen, der mit Weisheit Ordnung ſchafft, iſt auch bei dem Beſinnen nur der Anfang ein freier Act; die Einbildungskraft als ſolche, einmal in Bewegung ge- ſetzt, ſpielt fort. Nun fragt ſich, nach welcher Ordnung die Bilder ſich anziehen? Bekanntlich ſowohl nach der objectiven Ordnung ihrer ur- ſprünglich in der Anſchauung gegebenen Verbindung, als auch nach allen Ka- tegorieen. Die Kategorieen ſind zunächſt ſubjectiv, aber auch ſie ebenſo- ſehr objective Verhältnißformen. Welches dieſer Anziehungsgeſetze wirke, iſt zufällig, unbeſtimmbar; ſie ſchießen bunt und kraus durcheinander. Habe nun ich dieß Spiel in der Macht, oder es mich? Beides iſt wahr und dieß eben iſt der Begriff der Willkühr; ein Knäuel von Nachbarſchaften und Wahlverwandſchaften, worin die Dinge an ſich ſtehen, wirrt ſich zu- ſammen mit einem zunächſt von der Freiheit gegebenen Anfang, dann wiederholten ſchwachen Eingriffen derſelben, ſchließlich aber mit allem dem, worin das freie Subject unfrei iſt, mit ſeinen ſinnlichen Wünſchen und Einfällen, welche nach ihrem Belieben die Naturordnung durch falſche Einſchiebungen der an ſich objectiv gültigen Kategorieen durchbrechen und zu blauen Möglichkeiten miſchen. Dieſe ſubjectiv ſtoffartige Seite iſt im Folgenden ausdrücklich aufzunehmen; zunächſt handelt es ſich um die Ver- änderung, welche nun mit den Bildern vor ſich geht. Die Naturformen werden durcheinander geworfen; das Thier kann reden, der Menſch kann fliegen, der Körper hat keine Schwere und dieſer ganze Miſchmaſch jagt ſich unſtet in bunter Flucht; die Zeit wird nicht nur objectiv in den Ver- hältniſſen des Vorgeſtellten überſprungen, ſondern das ganze Schattenſpiel huſcht in ſauſendem Fluge am Geiſte vorüber; der Geiſt macht ſein Weſen, die zeitliche Bewegung, im erſten Rauſche gewaltſam geltend an der Na- tur, wird daher trunken von ſeinem eigenen Zauber fortgeriſſen, der ihm über den Kopf ſchwillt, wie Göthe’s Zauberlehrling. Die Willkühr der neuen Verbindungen iſt nicht Schönheit; dieſe hebt die Naturformen nicht auf, ſondern läutert ſie. Wird aber dennoch von dieſen willkührlichen Verbindungen Einiges hinübergenommen in die wahre Schöpfung der Schönheit, wie Centauren, das Gefolge des Bacchus, Engel, Teufel, Ge- ſpenſter, Wunder aller Art, ſo iſt wohl zu bedenken: erſtens, daß dieſe Geſchöpfe zu den Stoffen gehören, welche die künſtleriſche Phantaſie von dem Volksglauben überkommt, welcher in dieſer Richtung noch nicht wahr- haft äſthetiſch, ſondern in der unreifen Weiſe der Einbildungskraft ge-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/40>, abgerufen am 27.04.2024.