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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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das Wort Ideal und selbst Schönheit für das begreifliche Gefühl des
ächten Natursinns gegen den falschen Idealismus der Manieristen erklären,
welcher "willkührliche, aus der Luft gegriffene, der Natur im Einzelnen
entgegengesetzte Formen hervorzubringen sucht und an den Werken des
größten und ältesten Meisters en ronde bosse und basso rilievo Altflickerei
treibt." Allein Rumohr widerspricht sich selbst und geräth in Vorstellungen,
aus welchen man geradezu den Naturalismus, den er doch wie jenen
Idealismus verfolgt, ableiten könnte. Sein Satz, daß "schon die Natur
durch ihre Gestalten Alles unübertrefflich ausdrücke," wird nämlich ganz
gefährlich, wenn er gegen die obige Unterscheidung geradezu auch auf
die einzelne Erscheinung angewandt, wenn behauptet wird, es gebe voll-
kommene Modelle, wie denn jene Vittoria von Albano, welche eine Frei-
frau von Rheden nach Rom brachte, "alle Kunstwerke Roms übertroffen,
den nachbildenden Künstlern durchaus unerreichbar geblieben sein soll."
Darauf ließen wir es ohne Furcht ankommen, daß keiner der Künstler,
welche dieses Modell benützten, alle Formen brauchen konnte, wie er sie
fand, denn diese Vittoria war eine einzelne Schönheit, und das genügt.
Das Individuum kann nicht absolut sein, wehr brauchen wir nicht zu
wissen. Wären aber auch alle Grundformen an ihr vollkommen gewesen,
so war Blut, Wärme, Gährung des wirklichen Lebens mit all' den trüben-
den Einzelnheiten, die sie nothwendig auf der Oberfläche absetzen, hin-
reichend, sie unendlich hinter die hohen Kunstwerke zu setzen, welche nur
scheinbar Blut, Wärme, Hautleben u. s. w. haben. Wenn hier Rumohr
nicht weiß, daß er naturalistisch spricht, so steht er dagegen in andern
Wendungen ganz auf der Seite eines falschen Idealismus, wovon anderswo
zu sprechen ist.

2. Es liegt also ein Gegenstand vor, der zu den seltenen Erschei-
nungen der Schönheit gehört. Dieser Gegenstand ist, wie die nähere Be-
trachtung zeigt, nicht wahrhaft schön, sondern nur dem Schönen näher, vom
störenden Zufall freier, als andere. Das Reinigende, was schon in der Opera-
tion des sinnlichen Anschauens liegt, kommt ihm zu gute, aber dieß kommt
ebenso allen Erscheinungen, auch den gewöhnlichen, zu gute. Es ist daher
bereits klar, daß auch eine Gunst des Zufalls im Subjecte eintreten müsse,
um die wichtigere Hälfte, welche jene durch die Sinne nur halb und un-
vollständig vollzogene Verklärung übrig gelassen, zu übernehmen. Nennen
wir dieß zunächst ein Glück der Stimmung. Der Zuschauer findet sich
in die Freiheit des Gemüths versetzt, den Gegenstand als reine Form
zu betrachten und vom pathologischen Interesse (§. 75) sich loszusagen.
Es fragt sich, ob diese Gunst der Stimmung aus anderweitig im Subject
liegenden Ursachen eintreten könne und dann, wenn relativ Schönes dem
so Gestimmten begegnet, diesem nachhelfe und es zum wahrhaft Schönen

das Wort Ideal und ſelbſt Schönheit für das begreifliche Gefühl des
ächten Naturſinns gegen den falſchen Idealiſmus der Manieriſten erklären,
welcher „willkührliche, aus der Luft gegriffene, der Natur im Einzelnen
entgegengeſetzte Formen hervorzubringen ſucht und an den Werken des
größten und älteſten Meiſters en ronde bosse und basso rilievo Altflickerei
treibt.“ Allein Rumohr widerſpricht ſich ſelbſt und geräth in Vorſtellungen,
aus welchen man geradezu den Naturaliſmus, den er doch wie jenen
Idealiſmus verfolgt, ableiten könnte. Sein Satz, daß „ſchon die Natur
durch ihre Geſtalten Alles unübertrefflich ausdrücke,“ wird nämlich ganz
gefährlich, wenn er gegen die obige Unterſcheidung geradezu auch auf
die einzelne Erſcheinung angewandt, wenn behauptet wird, es gebe voll-
kommene Modelle, wie denn jene Vittoria von Albano, welche eine Frei-
frau von Rheden nach Rom brachte, „alle Kunſtwerke Roms übertroffen,
den nachbildenden Künſtlern durchaus unerreichbar geblieben ſein ſoll.“
Darauf ließen wir es ohne Furcht ankommen, daß keiner der Künſtler,
welche dieſes Modell benützten, alle Formen brauchen konnte, wie er ſie
fand, denn dieſe Vittoria war eine einzelne Schönheit, und das genügt.
Das Individuum kann nicht abſolut ſein, wehr brauchen wir nicht zu
wiſſen. Wären aber auch alle Grundformen an ihr vollkommen geweſen,
ſo war Blut, Wärme, Gährung des wirklichen Lebens mit all’ den trüben-
den Einzelnheiten, die ſie nothwendig auf der Oberfläche abſetzen, hin-
reichend, ſie unendlich hinter die hohen Kunſtwerke zu ſetzen, welche nur
ſcheinbar Blut, Wärme, Hautleben u. ſ. w. haben. Wenn hier Rumohr
nicht weiß, daß er naturaliſtiſch ſpricht, ſo ſteht er dagegen in andern
Wendungen ganz auf der Seite eines falſchen Idealiſmus, wovon anderswo
zu ſprechen iſt.

2. Es liegt alſo ein Gegenſtand vor, der zu den ſeltenen Erſchei-
nungen der Schönheit gehört. Dieſer Gegenſtand iſt, wie die nähere Be-
trachtung zeigt, nicht wahrhaft ſchön, ſondern nur dem Schönen näher, vom
ſtörenden Zufall freier, als andere. Das Reinigende, was ſchon in der Opera-
tion des ſinnlichen Anſchauens liegt, kommt ihm zu gute, aber dieß kommt
ebenſo allen Erſcheinungen, auch den gewöhnlichen, zu gute. Es iſt daher
bereits klar, daß auch eine Gunſt des Zufalls im Subjecte eintreten müſſe,
um die wichtigere Hälfte, welche jene durch die Sinne nur halb und un-
vollſtändig vollzogene Verklärung übrig gelaſſen, zu übernehmen. Nennen
wir dieß zunächſt ein Glück der Stimmung. Der Zuſchauer findet ſich
in die Freiheit des Gemüths verſetzt, den Gegenſtand als reine Form
zu betrachten und vom pathologiſchen Intereſſe (§. 75) ſich loszuſagen.
Es fragt ſich, ob dieſe Gunſt der Stimmung aus anderweitig im Subject
liegenden Urſachen eintreten könne und dann, wenn relativ Schönes dem
ſo Geſtimmten begegnet, dieſem nachhelfe und es zum wahrhaft Schönen

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[307/0021] das Wort Ideal und ſelbſt Schönheit für das begreifliche Gefühl des ächten Naturſinns gegen den falſchen Idealiſmus der Manieriſten erklären, welcher „willkührliche, aus der Luft gegriffene, der Natur im Einzelnen entgegengeſetzte Formen hervorzubringen ſucht und an den Werken des größten und älteſten Meiſters en ronde bosse und basso rilievo Altflickerei treibt.“ Allein Rumohr widerſpricht ſich ſelbſt und geräth in Vorſtellungen, aus welchen man geradezu den Naturaliſmus, den er doch wie jenen Idealiſmus verfolgt, ableiten könnte. Sein Satz, daß „ſchon die Natur durch ihre Geſtalten Alles unübertrefflich ausdrücke,“ wird nämlich ganz gefährlich, wenn er gegen die obige Unterſcheidung geradezu auch auf die einzelne Erſcheinung angewandt, wenn behauptet wird, es gebe voll- kommene Modelle, wie denn jene Vittoria von Albano, welche eine Frei- frau von Rheden nach Rom brachte, „alle Kunſtwerke Roms übertroffen, den nachbildenden Künſtlern durchaus unerreichbar geblieben ſein ſoll.“ Darauf ließen wir es ohne Furcht ankommen, daß keiner der Künſtler, welche dieſes Modell benützten, alle Formen brauchen konnte, wie er ſie fand, denn dieſe Vittoria war eine einzelne Schönheit, und das genügt. Das Individuum kann nicht abſolut ſein, wehr brauchen wir nicht zu wiſſen. Wären aber auch alle Grundformen an ihr vollkommen geweſen, ſo war Blut, Wärme, Gährung des wirklichen Lebens mit all’ den trüben- den Einzelnheiten, die ſie nothwendig auf der Oberfläche abſetzen, hin- reichend, ſie unendlich hinter die hohen Kunſtwerke zu ſetzen, welche nur ſcheinbar Blut, Wärme, Hautleben u. ſ. w. haben. Wenn hier Rumohr nicht weiß, daß er naturaliſtiſch ſpricht, ſo ſteht er dagegen in andern Wendungen ganz auf der Seite eines falſchen Idealiſmus, wovon anderswo zu ſprechen iſt. 2. Es liegt alſo ein Gegenſtand vor, der zu den ſeltenen Erſchei- nungen der Schönheit gehört. Dieſer Gegenſtand iſt, wie die nähere Be- trachtung zeigt, nicht wahrhaft ſchön, ſondern nur dem Schönen näher, vom ſtörenden Zufall freier, als andere. Das Reinigende, was ſchon in der Opera- tion des ſinnlichen Anſchauens liegt, kommt ihm zu gute, aber dieß kommt ebenſo allen Erſcheinungen, auch den gewöhnlichen, zu gute. Es iſt daher bereits klar, daß auch eine Gunſt des Zufalls im Subjecte eintreten müſſe, um die wichtigere Hälfte, welche jene durch die Sinne nur halb und un- vollſtändig vollzogene Verklärung übrig gelaſſen, zu übernehmen. Nennen wir dieß zunächſt ein Glück der Stimmung. Der Zuſchauer findet ſich in die Freiheit des Gemüths verſetzt, den Gegenſtand als reine Form zu betrachten und vom pathologiſchen Intereſſe (§. 75) ſich loszuſagen. Es fragt ſich, ob dieſe Gunſt der Stimmung aus anderweitig im Subject liegenden Urſachen eintreten könne und dann, wenn relativ Schönes dem ſo Geſtimmten begegnet, dieſem nachhelfe und es zum wahrhaft Schönen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/21>, abgerufen am 26.04.2024.