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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Man führt nämlich sonst die symbolisirende, allegorisirende, semiotische
Phantasie als Formen der ästhetischen auf. Wir haben aber schon ge-
sagt, daß dieselben als Formen der Unreife oder Auflösung durchaus nur
den Epochen des Bildungsgangs der Phantasie angehören. Alle nun
haben das gemein, daß die Phantasie, statt diesen Stoff in der unge-
schiedenen Einheit seiner Idee und seines Körpers in die Schönheit zu
erheben, irgend eine Idee des Subjects in den Körper irgend eines
Stoffs, der eigentlich eine andere Idee zur Seele hat, hinüberlegt. Sie
thun dieß aber ungestandener Maßen und sind daher ästhetisch schlechte
Formen. Dagegen thut die Vergleichung zwar ebendieß, aber gestan-
dener Maßen und ist, wenn sie nur nicht das ästhetische Ganze zu sein
behauptet, sondern in einem wahrhaft schönen Ganzen unterwegs, mit-
unter
, als Mittel vorkommt, berechtigt. So viel darüber, warum wir
diese, aber auch nur diese Form der blos beziehenden Phantasie hier
aufführen dürfen; eigentlich aber fragt es sich, ob die Phantasie, wie
sie uns bis jetzt vorliegt, diese Form bilden kann. Die dichtende kann
es, weil sie als die geistigste Art einen Kreis von Phantasie in Phan-
tasie beschreibt, worin sich das schaffende Subject über den einzelnen Stoff
hinweg und mit einem anderweitigen Ideen-Gehalte zu ihm zurückbewegen
kann, wo denn dieser auf jenen fällt und, ohne ihm eigentlich zu gehören,
auf den Grund eines bloßen tertium comparationis frei mit ihm zusam-
mengehalten werden kann. Daher ist von den Formen der komischen
Phantasie hier eigentlich allein der Witz möglich. In der Lehre von der
Poesie wird sich zeigen, daß die Sprache das Vehikel der dichtenden Phan-
tasie ist; diese aber ist das Mittel der blos vergleichenden Uebertragung.

§. 406.

1

Eine andere Theilungsreihe ergibt sich aus diesem Prinzip (§. 404), wenn
sich die Phantasie auf Kosten ihres Ganzen in eines ihrer Momente legt:
2dann wird sie, auf die Anschauung beschränkt, stark in Naturwahrheit, aber
arm an Idealität, fruchtbar zum Nachtheil der Einheit, auf die Einbildungs-
kraft beschränkt, ebenfalls fruchtbar ohne Ordnung, wild, nebelhaft, verworren,
3meist stoffartig leidenschaftlich; wenn sie von dem Gehalte der Persönlichkeit
(§. 392), der hier nun auch als Theilungsgrund auftreten muß, den rechten
Fortgang zur Gestattung nicht findet, bei guter Gesinnung ethistrend, bei schlech-
ter häßlich, bei ächtem Denken belehrend, bei verkehrtem Denken hohl und
4lügnerisch; wenn sie in der Empfindung und Stimmung stehen bleibt, gestaltlos
5innig; wenn sie sich einseitig im Momente der Begeisterung und Besonnen-
heit bewegt, planlos pathetisch oder planvoll absichtlich.


Man führt nämlich ſonſt die ſymboliſirende, allegoriſirende, ſemiotiſche
Phantaſie als Formen der äſthetiſchen auf. Wir haben aber ſchon ge-
ſagt, daß dieſelben als Formen der Unreife oder Auflöſung durchaus nur
den Epochen des Bildungsgangs der Phantaſie angehören. Alle nun
haben das gemein, daß die Phantaſie, ſtatt dieſen Stoff in der unge-
ſchiedenen Einheit ſeiner Idee und ſeines Körpers in die Schönheit zu
erheben, irgend eine Idee des Subjects in den Körper irgend eines
Stoffs, der eigentlich eine andere Idee zur Seele hat, hinüberlegt. Sie
thun dieß aber ungeſtandener Maßen und ſind daher äſthetiſch ſchlechte
Formen. Dagegen thut die Vergleichung zwar ebendieß, aber geſtan-
dener Maßen und iſt, wenn ſie nur nicht das äſthetiſche Ganze zu ſein
behauptet, ſondern in einem wahrhaft ſchönen Ganzen unterwegs, mit-
unter
, als Mittel vorkommt, berechtigt. So viel darüber, warum wir
dieſe, aber auch nur dieſe Form der blos beziehenden Phantaſie hier
aufführen dürfen; eigentlich aber fragt es ſich, ob die Phantaſie, wie
ſie uns bis jetzt vorliegt, dieſe Form bilden kann. Die dichtende kann
es, weil ſie als die geiſtigſte Art einen Kreis von Phantaſie in Phan-
taſie beſchreibt, worin ſich das ſchaffende Subject über den einzelnen Stoff
hinweg und mit einem anderweitigen Ideen-Gehalte zu ihm zurückbewegen
kann, wo denn dieſer auf jenen fällt und, ohne ihm eigentlich zu gehören,
auf den Grund eines bloßen tertium comparationis frei mit ihm zuſam-
mengehalten werden kann. Daher iſt von den Formen der komiſchen
Phantaſie hier eigentlich allein der Witz möglich. In der Lehre von der
Poeſie wird ſich zeigen, daß die Sprache das Vehikel der dichtenden Phan-
taſie iſt; dieſe aber iſt das Mittel der blos vergleichenden Uebertragung.

§. 406.

1

Eine andere Theilungsreihe ergibt ſich aus dieſem Prinzip (§. 404), wenn
ſich die Phantaſie auf Koſten ihres Ganzen in eines ihrer Momente legt:
2dann wird ſie, auf die Anſchauung beſchränkt, ſtark in Naturwahrheit, aber
arm an Idealität, fruchtbar zum Nachtheil der Einheit, auf die Einbildungs-
kraft beſchränkt, ebenfalls fruchtbar ohne Ordnung, wild, nebelhaft, verworren,
3meiſt ſtoffartig leidenſchaftlich; wenn ſie von dem Gehalte der Perſönlichkeit
(§. 392), der hier nun auch als Theilungsgrund auftreten muß, den rechten
Fortgang zur Geſtattung nicht findet, bei guter Geſinnung ethiſtrend, bei ſchlech-
ter häßlich, bei ächtem Denken belehrend, bei verkehrtem Denken hohl und
4lügneriſch; wenn ſie in der Empfindung und Stimmung ſtehen bleibt, geſtaltlos
5innig; wenn ſie ſich einſeitig im Momente der Begeiſterung und Beſonnen-
heit bewegt, planlos pathetiſch oder planvoll abſichtlich.


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[384/0098] Man führt nämlich ſonſt die ſymboliſirende, allegoriſirende, ſemiotiſche Phantaſie als Formen der äſthetiſchen auf. Wir haben aber ſchon ge- ſagt, daß dieſelben als Formen der Unreife oder Auflöſung durchaus nur den Epochen des Bildungsgangs der Phantaſie angehören. Alle nun haben das gemein, daß die Phantaſie, ſtatt dieſen Stoff in der unge- ſchiedenen Einheit ſeiner Idee und ſeines Körpers in die Schönheit zu erheben, irgend eine Idee des Subjects in den Körper irgend eines Stoffs, der eigentlich eine andere Idee zur Seele hat, hinüberlegt. Sie thun dieß aber ungeſtandener Maßen und ſind daher äſthetiſch ſchlechte Formen. Dagegen thut die Vergleichung zwar ebendieß, aber geſtan- dener Maßen und iſt, wenn ſie nur nicht das äſthetiſche Ganze zu ſein behauptet, ſondern in einem wahrhaft ſchönen Ganzen unterwegs, mit- unter, als Mittel vorkommt, berechtigt. So viel darüber, warum wir dieſe, aber auch nur dieſe Form der blos beziehenden Phantaſie hier aufführen dürfen; eigentlich aber fragt es ſich, ob die Phantaſie, wie ſie uns bis jetzt vorliegt, dieſe Form bilden kann. Die dichtende kann es, weil ſie als die geiſtigſte Art einen Kreis von Phantaſie in Phan- taſie beſchreibt, worin ſich das ſchaffende Subject über den einzelnen Stoff hinweg und mit einem anderweitigen Ideen-Gehalte zu ihm zurückbewegen kann, wo denn dieſer auf jenen fällt und, ohne ihm eigentlich zu gehören, auf den Grund eines bloßen tertium comparationis frei mit ihm zuſam- mengehalten werden kann. Daher iſt von den Formen der komiſchen Phantaſie hier eigentlich allein der Witz möglich. In der Lehre von der Poeſie wird ſich zeigen, daß die Sprache das Vehikel der dichtenden Phan- taſie iſt; dieſe aber iſt das Mittel der blos vergleichenden Uebertragung. §. 406. Eine andere Theilungsreihe ergibt ſich aus dieſem Prinzip (§. 404), wenn ſich die Phantaſie auf Koſten ihres Ganzen in eines ihrer Momente legt: dann wird ſie, auf die Anſchauung beſchränkt, ſtark in Naturwahrheit, aber arm an Idealität, fruchtbar zum Nachtheil der Einheit, auf die Einbildungs- kraft beſchränkt, ebenfalls fruchtbar ohne Ordnung, wild, nebelhaft, verworren, meiſt ſtoffartig leidenſchaftlich; wenn ſie von dem Gehalte der Perſönlichkeit (§. 392), der hier nun auch als Theilungsgrund auftreten muß, den rechten Fortgang zur Geſtattung nicht findet, bei guter Geſinnung ethiſtrend, bei ſchlech- ter häßlich, bei ächtem Denken belehrend, bei verkehrtem Denken hohl und lügneriſch; wenn ſie in der Empfindung und Stimmung ſtehen bleibt, geſtaltlos innig; wenn ſie ſich einſeitig im Momente der Begeiſterung und Beſonnen- heit bewegt, planlos pathetiſch oder planvoll abſichtlich.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/98>, abgerufen am 21.11.2024.