Wenn dieß Gestalten im Zuge ist, tritt auch die Begeisterung in vollen1 Schwung, die das Subject wie ein ihm unbewußtes Gesetz des Objects fort- reißt, aber die Besonnenheit als weise Durchführung der Idee in maaßvoller2 Anordnung eines Ganzen und seiner Formverhältnisse, nur in zweiter Linie be- gleitet von besonderer Reflexion über die Anordnung des Einzelnen, steht auf gleicher Höhe oder ist vielmehr als ihre eigene Bestimmtheit identisch mit ihr und in Vergleichung mit der gemeinen und mit der philosophischen Besonnenheit immer bewußtlos.
1. Das Unbewußte und Willenlose wächst mit der Stärke der Be- wegung, wodurch die reine Form erzeugt wird; daß dieß immer das Erste bleibt, muß gerade hier, wo sofort ebenso stark die Forderung des Gegentheils aufzutreten scheint, mit vollem Nachdruck festgehalten werden. Die Traumnatur, daß das Subject von seinen Gestalten fortgezogen wird, daß es sich ganz in sie zu verlieren scheint, als gäben sie ihm ein, nicht es ihnen, tritt in volle Kraft. Schiller (Br. 784 an Göthe) knüpft an eine (mißverstandene) Stelle Schellings die nachdrückliche Forderung, daß der Dichter nur mit dem Bewußtlosen anfange, ja sich glücklich zu schätzen habe, wenn er durch das (nachträgliche) klarste Bewußtsein seiner Opera- tionen nur so weit komme, um die erste dunkle aber mächtige Totalidee in der vollendeten Arbeit ungeschwächt wiederzufinden; er selbst, der "als eine Zwitterart zwischen dem Begriffe und der Anschauung zu schweben" gestand, beklagt sich, daß Theorie und Kritik ihm die lebendige Gluth ge- raubt haben; er sehe sich jetzt erschaffen und bilden, er beobachte das Spiel der Begeisterung und seine Einbildungskraft betrage sich mit minderer Freiheit, seitdem sie sich nicht mehr ohne Zeu- gen wisse. Das bewußtlose Thun der Phantasie erscheint als ein Zug des (mit den Kräften des Subjects geschwängerten) Objects zugleich mühe- los, und Lessing, indem er sich das wahre Organ der Dichtkunst abspricht, gesteht, er fühle die lebendige Quelle nicht in sich, die durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschieße, er müsse Alles durch Druckwerk und Röhren in sich heraufpressen.
2. Das Chaos (§. 395) gestaltet sich, der Nebel gerinnt, das neue Bild soll eine reiche Einheit wohlgeordneter Maaße und Verhältnisse werden. Dieß ist in der That ohne Anstrengung des Willens in seiner ganzen Freiheit, ohne Tiefe des Denkens nicht möglich und der Traum soll zugleich volles Wachen des seinem Bilde hell gegenüberstehenden Sub- jectes sein, das Unmittelbare durch gründliche Vermittlung zur Bestimmt- heit reifen. Es ist schwer, dieses Wachen im Träumen, das im Begriffe
§. 397.
Wenn dieß Geſtalten im Zuge iſt, tritt auch die Begeiſterung in vollen1 Schwung, die das Subject wie ein ihm unbewußtes Geſetz des Objects fort- reißt, aber die Beſonnenheit als weiſe Durchführung der Idee in maaßvoller2 Anordnung eines Ganzen und ſeiner Formverhältniſſe, nur in zweiter Linie be- gleitet von beſonderer Reflexion über die Anordnung des Einzelnen, ſteht auf gleicher Höhe oder iſt vielmehr als ihre eigene Beſtimmtheit identiſch mit ihr und in Vergleichung mit der gemeinen und mit der philoſophiſchen Beſonnenheit immer bewußtlos.
1. Das Unbewußte und Willenloſe wächst mit der Stärke der Be- wegung, wodurch die reine Form erzeugt wird; daß dieß immer das Erſte bleibt, muß gerade hier, wo ſofort ebenſo ſtark die Forderung des Gegentheils aufzutreten ſcheint, mit vollem Nachdruck feſtgehalten werden. Die Traumnatur, daß das Subject von ſeinen Geſtalten fortgezogen wird, daß es ſich ganz in ſie zu verlieren ſcheint, als gäben ſie ihm ein, nicht es ihnen, tritt in volle Kraft. Schiller (Br. 784 an Göthe) knüpft an eine (mißverſtandene) Stelle Schellings die nachdrückliche Forderung, daß der Dichter nur mit dem Bewußtloſen anfange, ja ſich glücklich zu ſchätzen habe, wenn er durch das (nachträgliche) klarſte Bewußtſein ſeiner Opera- tionen nur ſo weit komme, um die erſte dunkle aber mächtige Totalidee in der vollendeten Arbeit ungeſchwächt wiederzufinden; er ſelbſt, der „als eine Zwitterart zwiſchen dem Begriffe und der Anſchauung zu ſchweben“ geſtand, beklagt ſich, daß Theorie und Kritik ihm die lebendige Gluth ge- raubt haben; er ſehe ſich jetzt erſchaffen und bilden, er beobachte das Spiel der Begeiſterung und ſeine Einbildungskraft betrage ſich mit minderer Freiheit, ſeitdem ſie ſich nicht mehr ohne Zeu- gen wiſſe. Das bewußtloſe Thun der Phantaſie erſcheint als ein Zug des (mit den Kräften des Subjects geſchwängerten) Objects zugleich mühe- los, und Leſſing, indem er ſich das wahre Organ der Dichtkunſt abſpricht, geſteht, er fühle die lebendige Quelle nicht in ſich, die durch eigene Kraft in ſo reichen, ſo friſchen, ſo reinen Strahlen aufſchieße, er müſſe Alles durch Druckwerk und Röhren in ſich heraufpreſſen.
2. Das Chaos (§. 395) geſtaltet ſich, der Nebel gerinnt, das neue Bild ſoll eine reiche Einheit wohlgeordneter Maaße und Verhältniſſe werden. Dieß iſt in der That ohne Anſtrengung des Willens in ſeiner ganzen Freiheit, ohne Tiefe des Denkens nicht möglich und der Traum ſoll zugleich volles Wachen des ſeinem Bilde hell gegenüberſtehenden Sub- jectes ſein, das Unmittelbare durch gründliche Vermittlung zur Beſtimmt- heit reifen. Es iſt ſchwer, dieſes Wachen im Träumen, das im Begriffe
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Wenn dieß Geſtalten im Zuge iſt, tritt auch die Begeiſterung in vollen
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reißt, aber die Beſonnenheit als weiſe Durchführung der Idee in maaßvoller
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gleitet von beſonderer Reflexion über die Anordnung des Einzelnen, ſteht auf
gleicher Höhe oder iſt vielmehr als ihre eigene Beſtimmtheit identiſch mit ihr
und in Vergleichung mit der gemeinen und mit der philoſophiſchen Beſonnenheit
immer bewußtlos.
1. Das Unbewußte und Willenloſe wächst mit der Stärke der Be-
wegung, wodurch die reine Form erzeugt wird; daß dieß immer das
Erſte bleibt, muß gerade hier, wo ſofort ebenſo ſtark die Forderung des
Gegentheils aufzutreten ſcheint, mit vollem Nachdruck feſtgehalten werden.
Die Traumnatur, daß das Subject von ſeinen Geſtalten fortgezogen wird,
daß es ſich ganz in ſie zu verlieren ſcheint, als gäben ſie ihm ein, nicht
es ihnen, tritt in volle Kraft. Schiller (Br. 784 an Göthe) knüpft an
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der Dichter nur mit dem Bewußtloſen anfange, ja ſich glücklich zu ſchätzen
habe, wenn er durch das (nachträgliche) klarſte Bewußtſein ſeiner Opera-
tionen nur ſo weit komme, um die erſte dunkle aber mächtige Totalidee
in der vollendeten Arbeit ungeſchwächt wiederzufinden; er ſelbſt, der „als
eine Zwitterart zwiſchen dem Begriffe und der Anſchauung zu ſchweben“
geſtand, beklagt ſich, daß Theorie und Kritik ihm die lebendige Gluth ge-
raubt haben; er ſehe ſich jetzt erſchaffen und bilden, er beobachte das
Spiel der Begeiſterung und ſeine Einbildungskraft betrage ſich
mit minderer Freiheit, ſeitdem ſie ſich nicht mehr ohne Zeu-
gen wiſſe. Das bewußtloſe Thun der Phantaſie erſcheint als ein Zug
des (mit den Kräften des Subjects geſchwängerten) Objects zugleich mühe-
los, und Leſſing, indem er ſich das wahre Organ der Dichtkunſt abſpricht,
geſteht, er fühle die lebendige Quelle nicht in ſich, die durch eigene Kraft
in ſo reichen, ſo friſchen, ſo reinen Strahlen aufſchieße, er müſſe Alles
durch Druckwerk und Röhren in ſich heraufpreſſen.
2. Das Chaos (§. 395) geſtaltet ſich, der Nebel gerinnt, das neue
Bild ſoll eine reiche Einheit wohlgeordneter Maaße und Verhältniſſe
werden. Dieß iſt in der That ohne Anſtrengung des Willens in ſeiner
ganzen Freiheit, ohne Tiefe des Denkens nicht möglich und der Traum
ſoll zugleich volles Wachen des ſeinem Bilde hell gegenüberſtehenden Sub-
jectes ſein, das Unmittelbare durch gründliche Vermittlung zur Beſtimmt-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/69>, abgerufen am 22.02.2025.
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