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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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g.
Die eigentliche Phantasie.
§. 392.

Zuerst ist Alles, was im Bisherigen als vorausgesetzt im Subjecte aus-1
gesprochen wurde, dahin zusammenzufassen, daß dieses ein ganzer Mensch sein
muß: eine Persönlichkeit, welche jedes Einzelne mit der Frische der Anschauung
und Wärme des Gefühls ergreift, sich leidenschaftlich von ihr bewegen läßt,
aber es auch in die Einheit der Idee zurückführt, die sein allgemeines, nicht
in die Bestimmtheit des ethischen Handelns, noch der Religion, noch des reinen2
Denkens sich legendes Pathos ist.

1. Dieser §. ist also die Zusammenfassung dessen, was wir vom Ge-
halte oder von der Idee im Schönen nunmehr in der subjectiven Wen-
dung, wie sie nämlich im Besitze des das Schöne erzeugenden Subjectes
sein muß, vorauszusetzen und im Bisherigen nacheinander vereinzelt aus-
gesprochen haben. Es braucht keiner neuen Versicherung, daß wir dadurch
über das Spezifische des Verfahrens in der Erzeugung des Schönen noch
nichts wissen, aber ebensowenig eines Beweises, daß diese Voraussetzung
der Idee als Gehalt im Subjecte nothwendig sei. Der Phantasiebegabte
muß nun also eine Natur sein, die das Einzelne im Reichthum seiner
Mannigfaltigkeit liebreich und scharf erfaßt, aber auch jedes Einzelne im tiefsten
Innern in Einheit mit der Idee ("dem Gattungsbewußtsein" sagt Schleier-
macher Aesth. S. 146. 147) zurückführt; denn in jedes Einzelne soll das Uni-
versum gelegt werden. Schiller sagt (Briefw. zw. Schiller u. Göthe n. 784):
"Der Grad der Vollkommenheit des Dichters beruht auf dem Reichthum,
dem Gehalt, den er in sich hat und folglich auch außer sich darstellt, und
auf dem Grad von Nothwendigkeit, die sein Werk ausübt. Je subjectiver
sein Empfinden ist, desto zufälliger ist es; die objective Kraft beruht auf
dem Ideellen. Totalität des Ausdrucks wird von jedem dichterischen
Werke gefordert, denn jedes muß Charakter haben, oder es ist nichts;
aber der vollkommene Dichter spricht das Ganze der Menschheit
aus." Freilich in demselben Zusammenhange sagt er, daß mit "der dun-
keln Idee des Höchsten" noch nichts gesagt sei, daß er nur den, welcher
seinen Empfindungszustand in ein Object zu legen im Stande sei, so daß
dieses Object mich nöthigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen,
folglich lebendig wirkt, einen Poeten, einen Macher nenne, daß ihm gerade
der Schritt vom Subject zum Object den Poeten mache. Jeder, der
dieß kann, sei seiner Bestimmung gemäß Dichter der Art nach, der Reich-

γ.
Die eigentliche Phantaſie.
§. 392.

Zuerſt iſt Alles, was im Bisherigen als vorausgeſetzt im Subjecte aus-1
geſprochen wurde, dahin zuſammenzufaſſen, daß dieſes ein ganzer Menſch ſein
muß: eine Perſönlichkeit, welche jedes Einzelne mit der Friſche der Anſchauung
und Wärme des Gefühls ergreift, ſich leidenſchaftlich von ihr bewegen läßt,
aber es auch in die Einheit der Idee zurückführt, die ſein allgemeines, nicht
in die Beſtimmtheit des ethiſchen Handelns, noch der Religion, noch des reinen2
Denkens ſich legendes Pathos iſt.

1. Dieſer §. iſt alſo die Zuſammenfaſſung deſſen, was wir vom Ge-
halte oder von der Idee im Schönen nunmehr in der ſubjectiven Wen-
dung, wie ſie nämlich im Beſitze des das Schöne erzeugenden Subjectes
ſein muß, vorauszuſetzen und im Bisherigen nacheinander vereinzelt aus-
geſprochen haben. Es braucht keiner neuen Verſicherung, daß wir dadurch
über das Spezifiſche des Verfahrens in der Erzeugung des Schönen noch
nichts wiſſen, aber ebenſowenig eines Beweiſes, daß dieſe Vorausſetzung
der Idee als Gehalt im Subjecte nothwendig ſei. Der Phantaſiebegabte
muß nun alſo eine Natur ſein, die das Einzelne im Reichthum ſeiner
Mannigfaltigkeit liebreich und ſcharf erfaßt, aber auch jedes Einzelne im tiefſten
Innern in Einheit mit der Idee („dem Gattungsbewußtſein“ ſagt Schleier-
macher Aeſth. S. 146. 147) zurückführt; denn in jedes Einzelne ſoll das Uni-
verſum gelegt werden. Schiller ſagt (Briefw. zw. Schiller u. Göthe n. 784):
„Der Grad der Vollkommenheit des Dichters beruht auf dem Reichthum,
dem Gehalt, den er in ſich hat und folglich auch außer ſich darſtellt, und
auf dem Grad von Nothwendigkeit, die ſein Werk ausübt. Je ſubjectiver
ſein Empfinden iſt, deſto zufälliger iſt es; die objective Kraft beruht auf
dem Ideellen. Totalität des Ausdrucks wird von jedem dichteriſchen
Werke gefordert, denn jedes muß Charakter haben, oder es iſt nichts;
aber der vollkommene Dichter ſpricht das Ganze der Menſchheit
aus.“ Freilich in demſelben Zuſammenhange ſagt er, daß mit „der dun-
keln Idee des Höchſten“ noch nichts geſagt ſei, daß er nur den, welcher
ſeinen Empfindungszuſtand in ein Object zu legen im Stande ſei, ſo daß
dieſes Object mich nöthigt, in jenen Empfindungszuſtand überzugehen,
folglich lebendig wirkt, einen Poeten, einen Macher nenne, daß ihm gerade
der Schritt vom Subject zum Object den Poeten mache. Jeder, der
dieß kann, ſei ſeiner Beſtimmung gemäß Dichter der Art nach, der Reich-

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[335/0049] γ. Die eigentliche Phantaſie. §. 392. Zuerſt iſt Alles, was im Bisherigen als vorausgeſetzt im Subjecte aus- geſprochen wurde, dahin zuſammenzufaſſen, daß dieſes ein ganzer Menſch ſein muß: eine Perſönlichkeit, welche jedes Einzelne mit der Friſche der Anſchauung und Wärme des Gefühls ergreift, ſich leidenſchaftlich von ihr bewegen läßt, aber es auch in die Einheit der Idee zurückführt, die ſein allgemeines, nicht in die Beſtimmtheit des ethiſchen Handelns, noch der Religion, noch des reinen Denkens ſich legendes Pathos iſt. 1. Dieſer §. iſt alſo die Zuſammenfaſſung deſſen, was wir vom Ge- halte oder von der Idee im Schönen nunmehr in der ſubjectiven Wen- dung, wie ſie nämlich im Beſitze des das Schöne erzeugenden Subjectes ſein muß, vorauszuſetzen und im Bisherigen nacheinander vereinzelt aus- geſprochen haben. Es braucht keiner neuen Verſicherung, daß wir dadurch über das Spezifiſche des Verfahrens in der Erzeugung des Schönen noch nichts wiſſen, aber ebenſowenig eines Beweiſes, daß dieſe Vorausſetzung der Idee als Gehalt im Subjecte nothwendig ſei. Der Phantaſiebegabte muß nun alſo eine Natur ſein, die das Einzelne im Reichthum ſeiner Mannigfaltigkeit liebreich und ſcharf erfaßt, aber auch jedes Einzelne im tiefſten Innern in Einheit mit der Idee („dem Gattungsbewußtſein“ ſagt Schleier- macher Aeſth. S. 146. 147) zurückführt; denn in jedes Einzelne ſoll das Uni- verſum gelegt werden. Schiller ſagt (Briefw. zw. Schiller u. Göthe n. 784): „Der Grad der Vollkommenheit des Dichters beruht auf dem Reichthum, dem Gehalt, den er in ſich hat und folglich auch außer ſich darſtellt, und auf dem Grad von Nothwendigkeit, die ſein Werk ausübt. Je ſubjectiver ſein Empfinden iſt, deſto zufälliger iſt es; die objective Kraft beruht auf dem Ideellen. Totalität des Ausdrucks wird von jedem dichteriſchen Werke gefordert, denn jedes muß Charakter haben, oder es iſt nichts; aber der vollkommene Dichter ſpricht das Ganze der Menſchheit aus.“ Freilich in demſelben Zuſammenhange ſagt er, daß mit „der dun- keln Idee des Höchſten“ noch nichts geſagt ſei, daß er nur den, welcher ſeinen Empfindungszuſtand in ein Object zu legen im Stande ſei, ſo daß dieſes Object mich nöthigt, in jenen Empfindungszuſtand überzugehen, folglich lebendig wirkt, einen Poeten, einen Macher nenne, daß ihm gerade der Schritt vom Subject zum Object den Poeten mache. Jeder, der dieß kann, ſei ſeiner Beſtimmung gemäß Dichter der Art nach, der Reich-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/49>, abgerufen am 21.11.2024.