Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
dichtet: Stoffe, welche die Phantasie nun hinnimmt, wie Objecte der Na- §. 389. Der Geist vermag durch dieses Spiel, das als Werk der freien Wieder-1 1. Die "verzärtelte Tochter Jovis," die uns über "den dunkeln Ge-
dichtet: Stoffe, welche die Phantaſie nun hinnimmt, wie Objecte der Na- §. 389. Der Geiſt vermag durch dieſes Spiel, das als Werk der freien Wieder-1 1. Die „verzärtelte Tochter Jovis,“ die uns über „den dunkeln Ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0041" n="327"/> dichtet: Stoffe, welche die Phantaſie nun hinnimmt, wie Objecte der Na-<lb/> turſchönheit, ſo aber, daß ſie ſich thätig erweist, das wuchernde Uebermaaß<lb/> zu beſchneiden, die unſtete Flucht zum Stehen zu bringen, das Wildfremde<lb/> mehr und mehr zu vermenſchlichen. Die nähere Betrachtung dieſes wich-<lb/> tigen Punkts gehört in die Lehre von der Geſchichte der Phantaſie oder<lb/> des Ideals. Zweitens: die Phantaſie ſelbſt kann in dieſen Taumel der<lb/> Einbildungskraft zurückgreifen, der Dichter ſelbſt Wunderbares erſinnen.<lb/> Dann ſpinnt er aber entweder nur fort an jenem Volksglauben, auf deſſen<lb/> Boden er ſelbſt noch ſteht, und daſſelbe Verhältniß wiederholt ſich, wie<lb/> im vorhin genannten Falle; oder er ſteht nicht mehr auf dieſem Boden,<lb/> ſondern erkennt die reine Nothwendigkeit und Zuſammengehörigkeit aller<lb/> Naturformen: in dieſem Falle wird er aber entweder dieſe Spiele als<lb/> untergeordnete und dienende an den Saum ſeines Thuns in gewiſſe bloß<lb/> anhängende Zweige der Kunſt (Mährchen, Fabeln, Arabesken u. ſ. w.)<lb/> verweiſen, oder es iſt ihm ſo Ernſt damit, daß er ſie als eigentliche<lb/> Schönheit behauptet, und dann iſt er nicht zur ächten Phantaſie gediehen,<lb/> ſondern in der Einbildung ſtehen geblieben.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 389.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Der Geiſt vermag durch dieſes Spiel, das als Werk der freien Wieder-<note place="right">1</note><lb/> erzeugung <hi rendition="#g">reproductive Einbildungskraft</hi> heißt, über jedes Gegebene<lb/> hinauszugehen und ſich eine zweite Welt zu ſchaffen; aber ſchön iſt dieſe Welt<lb/> nicht nur aus den in §. 388 genannten objectiven Gründen, ſondern auch aus<lb/> den ſubjectiven nicht, weil er ſich hinter dieſem Spiele zurückbehält und es in<lb/> dieſer ſchwankenden Syntheſe noch weniger, als in der Anſchauung des Natur-<lb/> ſchönen (§. 381), ohne ſtoffartiges Intereſſe abgehen kann, wo es denn zufällig<lb/> iſt, ob er vermittelſt ſeiner Sinnlichkeit von den eigenen Bildern zur Begierde<note place="right">2</note><lb/> nach ihrem Gegenſtande gereizt wird, oder ob er mit wahrer Freiheit denſelben<lb/> ethiſch zu beſtimmen, theoretiſch zu durchdringen und demgemäß dem Bilder-<lb/> Getümmel ein Ende zu machen beſchließt. Dieſe Formen des <hi rendition="#g">Intereſſe</hi>’s<note place="right">3</note><lb/> ſind zur Entſtehung der Phantaſie vorausgeſetzt, aber nur als Vorbedingungen,<lb/> nicht als bleibende und beſtimmende Bewegungen.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Die „verzärtelte Tochter Jovis,“ die uns über „den dunkeln Ge-<lb/> nuß, die trüben Schmerzen des augenblicklichen beſchränkten Lebens, das<lb/> Joch der Nothdurft“ hinaushebt, iſt doch nicht das, was wir im ſtrengen<lb/> Sinne Phantaſie nennen. Sie iſt Verſchönerung des Lebens, noch nicht<lb/> Schönheit; ſie wird oft genug zur Beſchönigung. Das Subject hat in<lb/> ihr ein großes Gut, ein Aſyl, eine Fata Morgana zur Flucht aus allen<lb/> Hemmungen der eiſernen Nothwendigkeit, einen Zaubermantel, der den<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [327/0041]
dichtet: Stoffe, welche die Phantaſie nun hinnimmt, wie Objecte der Na-
turſchönheit, ſo aber, daß ſie ſich thätig erweist, das wuchernde Uebermaaß
zu beſchneiden, die unſtete Flucht zum Stehen zu bringen, das Wildfremde
mehr und mehr zu vermenſchlichen. Die nähere Betrachtung dieſes wich-
tigen Punkts gehört in die Lehre von der Geſchichte der Phantaſie oder
des Ideals. Zweitens: die Phantaſie ſelbſt kann in dieſen Taumel der
Einbildungskraft zurückgreifen, der Dichter ſelbſt Wunderbares erſinnen.
Dann ſpinnt er aber entweder nur fort an jenem Volksglauben, auf deſſen
Boden er ſelbſt noch ſteht, und daſſelbe Verhältniß wiederholt ſich, wie
im vorhin genannten Falle; oder er ſteht nicht mehr auf dieſem Boden,
ſondern erkennt die reine Nothwendigkeit und Zuſammengehörigkeit aller
Naturformen: in dieſem Falle wird er aber entweder dieſe Spiele als
untergeordnete und dienende an den Saum ſeines Thuns in gewiſſe bloß
anhängende Zweige der Kunſt (Mährchen, Fabeln, Arabesken u. ſ. w.)
verweiſen, oder es iſt ihm ſo Ernſt damit, daß er ſie als eigentliche
Schönheit behauptet, und dann iſt er nicht zur ächten Phantaſie gediehen,
ſondern in der Einbildung ſtehen geblieben.
§. 389.
Der Geiſt vermag durch dieſes Spiel, das als Werk der freien Wieder-
erzeugung reproductive Einbildungskraft heißt, über jedes Gegebene
hinauszugehen und ſich eine zweite Welt zu ſchaffen; aber ſchön iſt dieſe Welt
nicht nur aus den in §. 388 genannten objectiven Gründen, ſondern auch aus
den ſubjectiven nicht, weil er ſich hinter dieſem Spiele zurückbehält und es in
dieſer ſchwankenden Syntheſe noch weniger, als in der Anſchauung des Natur-
ſchönen (§. 381), ohne ſtoffartiges Intereſſe abgehen kann, wo es denn zufällig
iſt, ob er vermittelſt ſeiner Sinnlichkeit von den eigenen Bildern zur Begierde
nach ihrem Gegenſtande gereizt wird, oder ob er mit wahrer Freiheit denſelben
ethiſch zu beſtimmen, theoretiſch zu durchdringen und demgemäß dem Bilder-
Getümmel ein Ende zu machen beſchließt. Dieſe Formen des Intereſſe’s
ſind zur Entſtehung der Phantaſie vorausgeſetzt, aber nur als Vorbedingungen,
nicht als bleibende und beſtimmende Bewegungen.
1. Die „verzärtelte Tochter Jovis,“ die uns über „den dunkeln Ge-
nuß, die trüben Schmerzen des augenblicklichen beſchränkten Lebens, das
Joch der Nothdurft“ hinaushebt, iſt doch nicht das, was wir im ſtrengen
Sinne Phantaſie nennen. Sie iſt Verſchönerung des Lebens, noch nicht
Schönheit; ſie wird oft genug zur Beſchönigung. Das Subject hat in
ihr ein großes Gut, ein Aſyl, eine Fata Morgana zur Flucht aus allen
Hemmungen der eiſernen Nothwendigkeit, einen Zaubermantel, der den
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