Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.Verfalls zum Ausgang des mittelalterlichen Ideals zogen. Was wir nun §. 472. Inzwischen wirft sich in der feurigeren und weltlich entschlosseneren Natur In einer Seelengeschichte des Ideals darf der ungeheure Schritt Verfalls zum Ausgang des mittelalterlichen Ideals zogen. Was wir nun §. 472. Inzwiſchen wirft ſich in der feurigeren und weltlich entſchloſſeneren Natur In einer Seelengeſchichte des Ideals darf der ungeheure Schritt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <pb facs="#f0222" n="508"/> <hi rendition="#et">Verfalls zum Ausgang des mittelalterlichen Ideals zogen. Was wir nun<lb/> weiter als Durchbruch der entfeſſelten Volkskraft in der bildend dichtenden<lb/> Form aufführen, iſt allerdings ebenfalls meiſt Theil eines ſatyriſchen<lb/> Ganzen, wie bei Fiſchart, ſpäter unter den Verwüſtungen des dreißigjährigen<lb/> Kriegs bei Moſcheroſch und And., erſcheint aber in dieſer Umhüllung eben<lb/> als das poſitiv Neue. Dieſe ſprudelnde grobe Kraft als Träger einer<lb/> neuen ſittlich geſunden und freien Weltanſicht, dieſer lärmende Pfaffen-<lb/> und Adelshaß, dieſe Appellation an die alten guten Sitten iſt freilich<lb/> etwas ſo Stoffartiges, daß wir faſt nur wiederholen, was in §. 369 ge-<lb/> ſagt iſt. Zu einer reinen Formthätigkeit kann es in dieſer Zeit der Kämpfe<lb/> in Deutſchland nicht kommen; ſonſt hätte die humaniſtiſche Bildung an<lb/> den großen Begebenheiten der alten Geſchichte und des ſich auflöſenden<lb/> Mittelalters Stoffe gehabt, die ſich freier und harmoniſcher umbilden<lb/> ließen. — Die Sagen, von denen die Rede iſt, ſind namentlich die von<lb/> Fauſt und vom ewigen Juden.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 472.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Inzwiſchen wirft ſich in der feurigeren und weltlich entſchloſſeneren Natur<lb/> des germano-romaniſchen <hi rendition="#g">Englands</hi> mit raſchem Schwunge die Phantaſie in<lb/> die höchſte Aufgabe des modernen Ideals, die dritte Form der dichtenden<lb/> Phantaſie, und frei von Mythen, den Vortheil alter Sage benützend, aber zu-<lb/> gleich mit gewaltigem Geiſte die urſprüngliche Stoffwelt in ihren größten Er-<lb/> ſcheinungen ergreifend ſtellt ſie die ſittliche Weltordnung als gegenwärtig von<lb/> innen wirkendes Geſetz einer am Marke des Mittelalters genährten, willens-<lb/> ſtarken und doch drangvoll entfeſſelten Charakterwelt dar, während ſie ebenſo<lb/> kühn in die Tiefen des Komiſchen ſteigt: ein Vorſprung von unendlicher Wirkung.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">In einer Seelengeſchichte des Ideals darf der ungeheure Schritt<lb/> nicht vergeſſen werden, den das engliſche Drama, Shakespeare an der<lb/> Spitze, gethan hat. Hier iſt wie mit Einem Sprunge die neue Welt der<lb/> Phantaſie da, ein freies Univerſum, das ſich um ſich ſelbſt bewegt. Das<lb/> Schickſal iſt immanent in einer Menſchenwelt, welche die germaniſche Ur-<lb/> kraft der Nibelungengeſtalten bewahrt und der neuen Zeit gerettet über-<lb/> liefert, ohne dem neuen Geiſt der leidenſchaftlich entfeſſelten Subjectivität,<lb/> welcher zwar die ſelbſtbewußte Idee des Allgemeinen noch fehlt, ewas zu<lb/> vergeben. Dieſer Geiſt findet die rechten Stoffe; er beutet nicht nur die<lb/> engeren Sphären des Privatlebens aus, die Geſchichte öffnet ihm ihre<lb/> Schätze, das Alterthum, die dunkle germaniſche Urzeit, ſagenhaft, doch<lb/> ſo behandelt, daß im Fortgange die mythiſchen Motive ſich in rein menſch-<lb/> liche, pſychologiſche verwandeln, der blutige Todeskampf des Mittelalters.<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [508/0222]
Verfalls zum Ausgang des mittelalterlichen Ideals zogen. Was wir nun
weiter als Durchbruch der entfeſſelten Volkskraft in der bildend dichtenden
Form aufführen, iſt allerdings ebenfalls meiſt Theil eines ſatyriſchen
Ganzen, wie bei Fiſchart, ſpäter unter den Verwüſtungen des dreißigjährigen
Kriegs bei Moſcheroſch und And., erſcheint aber in dieſer Umhüllung eben
als das poſitiv Neue. Dieſe ſprudelnde grobe Kraft als Träger einer
neuen ſittlich geſunden und freien Weltanſicht, dieſer lärmende Pfaffen-
und Adelshaß, dieſe Appellation an die alten guten Sitten iſt freilich
etwas ſo Stoffartiges, daß wir faſt nur wiederholen, was in §. 369 ge-
ſagt iſt. Zu einer reinen Formthätigkeit kann es in dieſer Zeit der Kämpfe
in Deutſchland nicht kommen; ſonſt hätte die humaniſtiſche Bildung an
den großen Begebenheiten der alten Geſchichte und des ſich auflöſenden
Mittelalters Stoffe gehabt, die ſich freier und harmoniſcher umbilden
ließen. — Die Sagen, von denen die Rede iſt, ſind namentlich die von
Fauſt und vom ewigen Juden.
§. 472.
Inzwiſchen wirft ſich in der feurigeren und weltlich entſchloſſeneren Natur
des germano-romaniſchen Englands mit raſchem Schwunge die Phantaſie in
die höchſte Aufgabe des modernen Ideals, die dritte Form der dichtenden
Phantaſie, und frei von Mythen, den Vortheil alter Sage benützend, aber zu-
gleich mit gewaltigem Geiſte die urſprüngliche Stoffwelt in ihren größten Er-
ſcheinungen ergreifend ſtellt ſie die ſittliche Weltordnung als gegenwärtig von
innen wirkendes Geſetz einer am Marke des Mittelalters genährten, willens-
ſtarken und doch drangvoll entfeſſelten Charakterwelt dar, während ſie ebenſo
kühn in die Tiefen des Komiſchen ſteigt: ein Vorſprung von unendlicher Wirkung.
In einer Seelengeſchichte des Ideals darf der ungeheure Schritt
nicht vergeſſen werden, den das engliſche Drama, Shakespeare an der
Spitze, gethan hat. Hier iſt wie mit Einem Sprunge die neue Welt der
Phantaſie da, ein freies Univerſum, das ſich um ſich ſelbſt bewegt. Das
Schickſal iſt immanent in einer Menſchenwelt, welche die germaniſche Ur-
kraft der Nibelungengeſtalten bewahrt und der neuen Zeit gerettet über-
liefert, ohne dem neuen Geiſt der leidenſchaftlich entfeſſelten Subjectivität,
welcher zwar die ſelbſtbewußte Idee des Allgemeinen noch fehlt, ewas zu
vergeben. Dieſer Geiſt findet die rechten Stoffe; er beutet nicht nur die
engeren Sphären des Privatlebens aus, die Geſchichte öffnet ihm ihre
Schätze, das Alterthum, die dunkle germaniſche Urzeit, ſagenhaft, doch
ſo behandelt, daß im Fortgange die mythiſchen Motive ſich in rein menſch-
liche, pſychologiſche verwandeln, der blutige Todeskampf des Mittelalters.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |