Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.Das Ideal des Mittelalters tritt in einem gewissen Sinn nahe an §. 457. Beide in §. 455 unterschiedenen Formen der Aufhebung des Häßlichen, wel- Man darf nicht meinen, der Ueberschuß der Idee über die Erschei- Das Ideal des Mittelalters tritt in einem gewiſſen Sinn nahe an §. 457. Beide in §. 455 unterſchiedenen Formen der Aufhebung des Häßlichen, wel- Man darf nicht meinen, der Ueberſchuß der Idee über die Erſchei- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <pb facs="#f0199" n="485"/> <p> <hi rendition="#et">Das Ideal des Mittelalters tritt in einem gewiſſen Sinn nahe an<lb/> die Aufſtellung des ironiſchen Geſetzes: das Häßliche iſt ſchön. Gälte<lb/> dieß Geſetz ohne Einſchränkung, ſo wäre natürlich alles Aeſthetiſche ver-<lb/> nichtet, allein dieß iſt nicht der Fall, denn die innere Schönheit verbeſſert,<lb/> widerlegt ja in dieſem Ideal die Mängel der Form im engern Sinne.<lb/> Die Seelenſchönheit wäre aber nicht Schönheit, wenn ſie nicht auch er-<lb/> ſchiene; ſie erſcheint nur anderswo, als in dem Körper, ſofern er ſchönes<lb/> Gewächſe iſt, ſie erſcheint in der Magie des Ausdrucks. Dieß rettet aller-<lb/> dings die äſthetiſche Geltung des romantiſchen Ideals. Allein es bleibt<lb/> dennoch ein Bruch, ohne einen Reſt von Barbarei geht es nicht ab. Der<lb/> §. unterſcheidet „Kreuzigung des Fleiſches bis zu peinlicher Häßlichkeit“<lb/> und „Gedrücktheit und Weltloſigkeit der Erſcheinung überhaupt;“ das Erſtere<lb/> bezeichnet mehr den eigentlich aſcetiſchen Ausdruck mit ſeiner Magerkeit<lb/> und traurigen Verzehrung aller Fülle leiblichen Daſeins, die ſchauderhaften<lb/> Stoffe, welche die Abhängigkeit der Phantaſie von der Religion in dieſer<lb/> Richtung liebt, jene henkermäßigen Darſtellungen des Leidens Chriſti und<lb/> der Märtyrer; das Zweite die Blödigkeit, Unfreiheit, den Bann, der ſelbſt<lb/> auf den Geſtalten aus dem mehr weltlichen Kreiſe liegt, den Ausdruck<lb/> prinzipiell feſtgehaltener Unmündigkeit, deren höchſte Pflicht iſt, den Pfaf-<lb/> fen zu gehorchen, und höchſtes Verdienſt, ein Leben voll Thaten im Klo-<lb/> ſter zu beſchließen. Ueber die Ariſtokratie der Geſtalt, welche dadurch,<lb/> der demokratiſchen Berechtigung der Individualität zum Trotz, auch in die-<lb/> ſem Ideale herrſcht, kann nun auf die Anm. zu §. 62. verwieſen werden.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 457.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Beide in §. 455 unterſchiedenen Formen der Aufhebung des Häßlichen, wel-<lb/> ches mit der Eigenheit der Individualität in dieſes Ideal eindringt, können <hi rendition="#g">er-<lb/> haben</hi> oder <hi rendition="#g">komiſch</hi> ſein. Die romantiſche Phantaſie verfolgt, während ſie<lb/> auch das einfach Schöne zum vollen Zauber ſeelenvoller Anmuth vertieft, das<lb/> Erhabene in neue Tiefen des unendlichen Leidens, der innerlichſten Empörung<lb/> des Böſen, aber auch der höchſten Verklärung; die weltloſe Innerlichkeit<lb/> ſchließt jedoch den wahren Prozeß des Tragiſchen aus. Auch das Komiſche<lb/> hat, ohne zwar die Form der Poſſe ganz zu verlaſſen, den Boden ſeiner tiefe-<lb/> ren Formen durch die Einkehr des Subjects in ſich betreten.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Man darf nicht meinen, der Ueberſchuß der Idee über die Erſchei-<lb/> nung, worauf dieſes ganze Ideal ruht, beſtimme daſſelbe überhaupt zu<lb/> einem Ideal der Erhabenheit. Es handelt ſich hier von einer geſchichtli-<lb/> chen Form des Schönen, welche durch eine Summe von Bedingungen,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [485/0199]
Das Ideal des Mittelalters tritt in einem gewiſſen Sinn nahe an
die Aufſtellung des ironiſchen Geſetzes: das Häßliche iſt ſchön. Gälte
dieß Geſetz ohne Einſchränkung, ſo wäre natürlich alles Aeſthetiſche ver-
nichtet, allein dieß iſt nicht der Fall, denn die innere Schönheit verbeſſert,
widerlegt ja in dieſem Ideal die Mängel der Form im engern Sinne.
Die Seelenſchönheit wäre aber nicht Schönheit, wenn ſie nicht auch er-
ſchiene; ſie erſcheint nur anderswo, als in dem Körper, ſofern er ſchönes
Gewächſe iſt, ſie erſcheint in der Magie des Ausdrucks. Dieß rettet aller-
dings die äſthetiſche Geltung des romantiſchen Ideals. Allein es bleibt
dennoch ein Bruch, ohne einen Reſt von Barbarei geht es nicht ab. Der
§. unterſcheidet „Kreuzigung des Fleiſches bis zu peinlicher Häßlichkeit“
und „Gedrücktheit und Weltloſigkeit der Erſcheinung überhaupt;“ das Erſtere
bezeichnet mehr den eigentlich aſcetiſchen Ausdruck mit ſeiner Magerkeit
und traurigen Verzehrung aller Fülle leiblichen Daſeins, die ſchauderhaften
Stoffe, welche die Abhängigkeit der Phantaſie von der Religion in dieſer
Richtung liebt, jene henkermäßigen Darſtellungen des Leidens Chriſti und
der Märtyrer; das Zweite die Blödigkeit, Unfreiheit, den Bann, der ſelbſt
auf den Geſtalten aus dem mehr weltlichen Kreiſe liegt, den Ausdruck
prinzipiell feſtgehaltener Unmündigkeit, deren höchſte Pflicht iſt, den Pfaf-
fen zu gehorchen, und höchſtes Verdienſt, ein Leben voll Thaten im Klo-
ſter zu beſchließen. Ueber die Ariſtokratie der Geſtalt, welche dadurch,
der demokratiſchen Berechtigung der Individualität zum Trotz, auch in die-
ſem Ideale herrſcht, kann nun auf die Anm. zu §. 62. verwieſen werden.
§. 457.
Beide in §. 455 unterſchiedenen Formen der Aufhebung des Häßlichen, wel-
ches mit der Eigenheit der Individualität in dieſes Ideal eindringt, können er-
haben oder komiſch ſein. Die romantiſche Phantaſie verfolgt, während ſie
auch das einfach Schöne zum vollen Zauber ſeelenvoller Anmuth vertieft, das
Erhabene in neue Tiefen des unendlichen Leidens, der innerlichſten Empörung
des Böſen, aber auch der höchſten Verklärung; die weltloſe Innerlichkeit
ſchließt jedoch den wahren Prozeß des Tragiſchen aus. Auch das Komiſche
hat, ohne zwar die Form der Poſſe ganz zu verlaſſen, den Boden ſeiner tiefe-
ren Formen durch die Einkehr des Subjects in ſich betreten.
Man darf nicht meinen, der Ueberſchuß der Idee über die Erſchei-
nung, worauf dieſes ganze Ideal ruht, beſtimme daſſelbe überhaupt zu
einem Ideal der Erhabenheit. Es handelt ſich hier von einer geſchichtli-
chen Form des Schönen, welche durch eine Summe von Bedingungen,
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