stens und mehr decorativ, als in der Hauptdarstellung, von der Allegorie Gebrauch machen dürfen? Diese gehört in die Kunstlehre. Wir werden aber auch in der Geschichte des Ideals noch an mehreren Orten die Alle- gorie aufnehmen müssen; insbesondere, um das ebengenannte "noch nicht", d. h. die Frage, ob die Allegorie nicht doch auch als Gestalt der unrei- fen Phantasie hervortrete, aufzunehmen.
§. 445.
Die Auflösung des antiken Ideals mußte sich aber auch in der ausge-1 dehnteren Aufnahme der ursprünglichen Stoffwelt äußern und zwar zunächst po- sitiv, so daß eine götterlose Wirklichkeit, welcher das in seine vereinzelte Lebendigkeit zurückgeführte Subject gegenübersteht, durch Vertiefung desselben in die engeren Gebiete des menschlichen Daseins Geltung im Schönen erhielt. Diese subjective Vertiefung, welche sich nicht mehr in der bildenden, sondern in der empfindend dichtenden Form niederlegt, ist theils eine sinnlich leidenschaft- liche, theils eine gefühlvoll wehmüthige, welche das Glück der objectiven Le- bensform in heimlichen, von der verderbten Welt zurückgezogenen Kreisen auf- sucht oder die Kürze des persönlichen Genusses beklagt. Ueberall lagen hier2 die Abirrungen in sinnliche Ueppigkeit, Häßlichkeit und in Trennung des Denkens von der Formthätigkeit der Phantasie nahe (vergl. §. 406).
1. Das antike Ideal kann eigentlich das Eindringen der ursprüng- lichen Stoffwelt nicht vertragen; da die Weise seines Idealisirens Ver- götterung ist, so kann es den Weg zum freien Idealisiren ohne Götter nicht finden und bemüht sich in einseitigen Versuchen, den eingetretenen Bruch zwischen Bild und Idee, Gegenstand und idealisirendem Subject auszufüllen. Sogleich ist aber wohl zu bemerken, daß das wichtigste Stück der ursprünglichen Stoffwelt jedenfalls wegfällt: die großen ge- schichtlichen Stoffe; denn das Volksleben ist ja zerfallen, die Einzelnen sind punktuell geworden. Der vereinzelte Mensch rettet daher seine Le- bendigkeit in die Enge. Jetzt wird also vor Allem das Privatleben, das im blühenden Alterthum (vergl. 350, 3.) so sehr zurücktrat, interessant: die Abentheuer, die Liebesgeschichten, das Familienleben des Einzelnen; ferner die Beschäftigungen, die Sitten und Bräuche, die Genüsse, das Psychologische im Individuum, kurz Alles das, was wir in §. 326. 327. 330--340 umfaßten und wohl auch mit dem Namen des rein Mensch- lichen bezeichneten. Selbst die landschaftliche Schönheit fängt an bemerkt und freilich wieder mit Einmischungen des Mythischen, was sie eigentlich aufhebt, von der Phantasie aufgefaßt zu werden. Das Wichtigste ist das Verhältniß des phantasievollen Individuums zu den ihm nun vorzüglich
ſtens und mehr decorativ, als in der Hauptdarſtellung, von der Allegorie Gebrauch machen dürfen? Dieſe gehört in die Kunſtlehre. Wir werden aber auch in der Geſchichte des Ideals noch an mehreren Orten die Alle- gorie aufnehmen müſſen; insbeſondere, um das ebengenannte „noch nicht“, d. h. die Frage, ob die Allegorie nicht doch auch als Geſtalt der unrei- fen Phantaſie hervortrete, aufzunehmen.
§. 445.
Die Auflöſung des antiken Ideals mußte ſich aber auch in der ausge-1 dehnteren Aufnahme der urſprünglichen Stoffwelt äußern und zwar zunächſt po- ſitiv, ſo daß eine götterloſe Wirklichkeit, welcher das in ſeine vereinzelte Lebendigkeit zurückgeführte Subject gegenüberſteht, durch Vertiefung deſſelben in die engeren Gebiete des menſchlichen Daſeins Geltung im Schönen erhielt. Dieſe ſubjective Vertiefung, welche ſich nicht mehr in der bildenden, ſondern in der empfindend dichtenden Form niederlegt, iſt theils eine ſinnlich leidenſchaft- liche, theils eine gefühlvoll wehmüthige, welche das Glück der objectiven Le- bensform in heimlichen, von der verderbten Welt zurückgezogenen Kreiſen auf- ſucht oder die Kürze des perſönlichen Genuſſes beklagt. Ueberall lagen hier2 die Abirrungen in ſinnliche Ueppigkeit, Häßlichkeit und in Trennung des Denkens von der Formthätigkeit der Phantaſie nahe (vergl. §. 406).
1. Das antike Ideal kann eigentlich das Eindringen der urſprüng- lichen Stoffwelt nicht vertragen; da die Weiſe ſeines Idealiſirens Ver- götterung iſt, ſo kann es den Weg zum freien Idealiſiren ohne Götter nicht finden und bemüht ſich in einſeitigen Verſuchen, den eingetretenen Bruch zwiſchen Bild und Idee, Gegenſtand und idealiſirendem Subject auszufüllen. Sogleich iſt aber wohl zu bemerken, daß das wichtigſte Stück der urſprünglichen Stoffwelt jedenfalls wegfällt: die großen ge- ſchichtlichen Stoffe; denn das Volksleben iſt ja zerfallen, die Einzelnen ſind punktuell geworden. Der vereinzelte Menſch rettet daher ſeine Le- bendigkeit in die Enge. Jetzt wird alſo vor Allem das Privatleben, das im blühenden Alterthum (vergl. 350, 3.) ſo ſehr zurücktrat, intereſſant: die Abentheuer, die Liebesgeſchichten, das Familienleben des Einzelnen; ferner die Beſchäftigungen, die Sitten und Bräuche, die Genüſſe, das Pſychologiſche im Individuum, kurz Alles das, was wir in §. 326. 327. 330—340 umfaßten und wohl auch mit dem Namen des rein Menſch- lichen bezeichneten. Selbſt die landſchaftliche Schönheit fängt an bemerkt und freilich wieder mit Einmiſchungen des Mythiſchen, was ſie eigentlich aufhebt, von der Phantaſie aufgefaßt zu werden. Das Wichtigſte iſt das Verhältniß des phantaſievollen Individuums zu den ihm nun vorzüglich
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Gebrauch machen dürfen? Dieſe gehört in die Kunſtlehre. Wir werden
aber auch in der Geſchichte des Ideals noch an mehreren Orten die Alle-
gorie aufnehmen müſſen; insbeſondere, um das ebengenannte „noch nicht“,
d. h. die Frage, ob die Allegorie nicht doch auch als Geſtalt der unrei-
fen Phantaſie hervortrete, aufzunehmen.
§. 445.
Die Auflöſung des antiken Ideals mußte ſich aber auch in der ausge-
dehnteren Aufnahme der urſprünglichen Stoffwelt äußern und zwar zunächſt po-
ſitiv, ſo daß eine götterloſe Wirklichkeit, welcher das in ſeine vereinzelte
Lebendigkeit zurückgeführte Subject gegenüberſteht, durch Vertiefung deſſelben
in die engeren Gebiete des menſchlichen Daſeins Geltung im Schönen erhielt.
Dieſe ſubjective Vertiefung, welche ſich nicht mehr in der bildenden, ſondern in
der empfindend dichtenden Form niederlegt, iſt theils eine ſinnlich leidenſchaft-
liche, theils eine gefühlvoll wehmüthige, welche das Glück der objectiven Le-
bensform in heimlichen, von der verderbten Welt zurückgezogenen Kreiſen auf-
ſucht oder die Kürze des perſönlichen Genuſſes beklagt. Ueberall lagen hier
die Abirrungen in ſinnliche Ueppigkeit, Häßlichkeit und in Trennung des Denkens
von der Formthätigkeit der Phantaſie nahe (vergl. §. 406).
1. Das antike Ideal kann eigentlich das Eindringen der urſprüng-
lichen Stoffwelt nicht vertragen; da die Weiſe ſeines Idealiſirens Ver-
götterung iſt, ſo kann es den Weg zum freien Idealiſiren ohne Götter
nicht finden und bemüht ſich in einſeitigen Verſuchen, den eingetretenen
Bruch zwiſchen Bild und Idee, Gegenſtand und idealiſirendem Subject
auszufüllen. Sogleich iſt aber wohl zu bemerken, daß das wichtigſte
Stück der urſprünglichen Stoffwelt jedenfalls wegfällt: die großen ge-
ſchichtlichen Stoffe; denn das Volksleben iſt ja zerfallen, die Einzelnen
ſind punktuell geworden. Der vereinzelte Menſch rettet daher ſeine Le-
bendigkeit in die Enge. Jetzt wird alſo vor Allem das Privatleben,
das im blühenden Alterthum (vergl. 350, 3.) ſo ſehr zurücktrat, intereſſant:
die Abentheuer, die Liebesgeſchichten, das Familienleben des Einzelnen;
ferner die Beſchäftigungen, die Sitten und Bräuche, die Genüſſe, das
Pſychologiſche im Individuum, kurz Alles das, was wir in §. 326. 327.
330—340 umfaßten und wohl auch mit dem Namen des rein Menſch-
lichen bezeichneten. Selbſt die landſchaftliche Schönheit fängt an bemerkt
und freilich wieder mit Einmiſchungen des Mythiſchen, was ſie eigentlich
aufhebt, von der Phantaſie aufgefaßt zu werden. Das Wichtigſte iſt das
Verhältniß des phantaſievollen Individuums zu den ihm nun vorzüglich
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/185>, abgerufen am 22.02.2025.
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