Deduction braucht es z. B., um die Gymnastik als sittliche Pflicht von dem jüdisch-christlichen Gott abzuleiten! Dem Griechen aber steht an sei- ner Palästra der schlanke Hermes, er sieht sein Bild an und die wichtige Pflicht der Körperbildung ist ihm in ihrer ewigen Geltung unmittelbar gegenwärtig. Man muß entweder viele sinnlich sittliche Götter haben, um die Sphären des Lebens zu heiligen und das rein Menschliche zu ehren, oder man muß auf allen Anthropomorphismus verzichten und die absolute Idee als flüssige Gegenwart erkennen, um für die Sittlichkeit das wahre Motiv zu haben; mit dem Einen übersinnlich sinnlichen Gott, den man vom Polytheismus stehen läßt, verliert man die ächte Begründung dersel- ben und lernt das Verdienst des Glaubens bei schlechten Handlungen erjagen, lernt den Fanatismus, der dem Griechen so fremd war.
§. 436.
1
Durch eine Reihe untergeordneter Genien knüpft sich leicht und offen an die zweite Stoffwelt, den von einem Hauptgotte liberal beherrschten und in flüs- sigem Tausche seine Aemter wechselnden Götterkreis, die ursprüngliche Stoffwelt in Form einer reichen, die Geschichte des Volks in großen Typen verherrlichen- den Sage, welche mit dem Mythus ohne Wunder zusammenspielt, und ungehemmt 2legt sich in alle Lebenssphären die veredelnde Phantasie. Allerdings bleibt dennoch die in §. 418. 425, 2 (vergl. §. 62) aufgezeigte Scheidewand, aber zugleich hebt der Geist des Fortschritts den Typus auf und die Phantasie löst den Widerspruch, mitten im unfreien Schein frei zu sein, macht die entbindende Natur des Schönen (vergl. §. 63 -- 66) unschädlich geltend und bildet, wozu die Bedingung nun gegeben ist, das Schöne um des Schönen willen, jedoch in völliger Naivität, zur Reife.
1. Den Kreis der Zwölfgötter beherrscht Zeus in einer Form der Zufälligkeit, welche deutlich genug zeigt, daß es dem demokratischen Volke mit der Monarchie auch auf dem Olymp nicht mehr Ernst war. Wenn nun schon die zwölf Hauptgötter nichts weniger, als ein pedantisches Sy- stem, darstellen, wenn der Eine oft genug in das Amt des Andern über- greift, so läßt sich zudem der Grieche durch den Anschein eines Abschlus- ses nicht abhalten, besondere Natur- und Lebenssphären, welche im Grunde unter Einen der Zwölfgötter schon befaßt sind, noch besonders zu vergöt- tern. Der Dionysosdienst drang ein mit seinem heitern Kreise von Sa- tyrn, Silenen, Mänaden, in welchen das Grobsinnliche und Thierische der menschlichen Natur seine besondere Idealität innerhalb seines Bodens durch orgiastischen Schwung erhält; das Geschlecht der Centauren, dann der Waldgötter, Pane, schließt sich an sie an. Aphrodite sammelt den erotischen Kreis um sich, die Grazien sind in seinem Gefolge. Das Ge-
Deduction braucht es z. B., um die Gymnaſtik als ſittliche Pflicht von dem jüdiſch-chriſtlichen Gott abzuleiten! Dem Griechen aber ſteht an ſei- ner Paläſtra der ſchlanke Hermes, er ſieht ſein Bild an und die wichtige Pflicht der Körperbildung iſt ihm in ihrer ewigen Geltung unmittelbar gegenwärtig. Man muß entweder viele ſinnlich ſittliche Götter haben, um die Sphären des Lebens zu heiligen und das rein Menſchliche zu ehren, oder man muß auf allen Anthropomorphiſmus verzichten und die abſolute Idee als flüſſige Gegenwart erkennen, um für die Sittlichkeit das wahre Motiv zu haben; mit dem Einen überſinnlich ſinnlichen Gott, den man vom Polytheiſmus ſtehen läßt, verliert man die ächte Begründung derſel- ben und lernt das Verdienſt des Glaubens bei ſchlechten Handlungen erjagen, lernt den Fanatiſmus, der dem Griechen ſo fremd war.
§. 436.
1
Durch eine Reihe untergeordneter Genien knüpft ſich leicht und offen an die zweite Stoffwelt, den von einem Hauptgotte liberal beherrſchten und in flüſ- ſigem Tauſche ſeine Aemter wechſelnden Götterkreis, die urſprüngliche Stoffwelt in Form einer reichen, die Geſchichte des Volks in großen Typen verherrlichen- den Sage, welche mit dem Mythus ohne Wunder zuſammenſpielt, und ungehemmt 2legt ſich in alle Lebensſphären die veredelnde Phantaſie. Allerdings bleibt dennoch die in §. 418. 425, 2 (vergl. §. 62) aufgezeigte Scheidewand, aber zugleich hebt der Geiſt des Fortſchritts den Typus auf und die Phantaſie löst den Widerſpruch, mitten im unfreien Schein frei zu ſein, macht die entbindende Natur des Schönen (vergl. §. 63 — 66) unſchädlich geltend und bildet, wozu die Bedingung nun gegeben iſt, das Schöne um des Schönen willen, jedoch in völliger Naivität, zur Reife.
1. Den Kreis der Zwölfgötter beherrſcht Zeus in einer Form der Zufälligkeit, welche deutlich genug zeigt, daß es dem demokratiſchen Volke mit der Monarchie auch auf dem Olymp nicht mehr Ernſt war. Wenn nun ſchon die zwölf Hauptgötter nichts weniger, als ein pedantiſches Sy- ſtem, darſtellen, wenn der Eine oft genug in das Amt des Andern über- greift, ſo läßt ſich zudem der Grieche durch den Anſchein eines Abſchluſ- ſes nicht abhalten, beſondere Natur- und Lebensſphären, welche im Grunde unter Einen der Zwölfgötter ſchon befaßt ſind, noch beſonders zu vergöt- tern. Der Dionyſosdienſt drang ein mit ſeinem heitern Kreiſe von Sa- tyrn, Silenen, Mänaden, in welchen das Grobſinnliche und Thieriſche der menſchlichen Natur ſeine beſondere Idealität innerhalb ſeines Bodens durch orgiaſtiſchen Schwung erhält; das Geſchlecht der Centauren, dann der Waldgötter, Pane, ſchließt ſich an ſie an. Aphrodite ſammelt den erotiſchen Kreis um ſich, die Grazien ſind in ſeinem Gefolge. Das Ge-
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Deduction braucht es z. B., um die Gymnaſtik als ſittliche Pflicht von
dem jüdiſch-chriſtlichen Gott abzuleiten! Dem Griechen aber ſteht an ſei-
ner Paläſtra der ſchlanke Hermes, er ſieht ſein Bild an und die wichtige
Pflicht der Körperbildung iſt ihm in ihrer ewigen Geltung unmittelbar
gegenwärtig. Man muß entweder viele ſinnlich ſittliche Götter haben, um
die Sphären des Lebens zu heiligen und das rein Menſchliche zu ehren,
oder man muß auf allen Anthropomorphiſmus verzichten und die abſolute
Idee als flüſſige Gegenwart erkennen, um für die Sittlichkeit das wahre
Motiv zu haben; mit dem Einen überſinnlich ſinnlichen Gott, den man
vom Polytheiſmus ſtehen läßt, verliert man die ächte Begründung derſel-
ben und lernt das Verdienſt des Glaubens bei ſchlechten Handlungen
erjagen, lernt den Fanatiſmus, der dem Griechen ſo fremd war.
§. 436.
Durch eine Reihe untergeordneter Genien knüpft ſich leicht und offen an
die zweite Stoffwelt, den von einem Hauptgotte liberal beherrſchten und in flüſ-
ſigem Tauſche ſeine Aemter wechſelnden Götterkreis, die urſprüngliche Stoffwelt
in Form einer reichen, die Geſchichte des Volks in großen Typen verherrlichen-
den Sage, welche mit dem Mythus ohne Wunder zuſammenſpielt, und ungehemmt
legt ſich in alle Lebensſphären die veredelnde Phantaſie. Allerdings bleibt dennoch
die in §. 418. 425, 2 (vergl. §. 62) aufgezeigte Scheidewand, aber zugleich hebt
der Geiſt des Fortſchritts den Typus auf und die Phantaſie löst den Widerſpruch,
mitten im unfreien Schein frei zu ſein, macht die entbindende Natur des Schönen
(vergl. §. 63 — 66) unſchädlich geltend und bildet, wozu die Bedingung nun
gegeben iſt, das Schöne um des Schönen willen, jedoch in völliger Naivität,
zur Reife.
1. Den Kreis der Zwölfgötter beherrſcht Zeus in einer Form der
Zufälligkeit, welche deutlich genug zeigt, daß es dem demokratiſchen Volke
mit der Monarchie auch auf dem Olymp nicht mehr Ernſt war. Wenn
nun ſchon die zwölf Hauptgötter nichts weniger, als ein pedantiſches Sy-
ſtem, darſtellen, wenn der Eine oft genug in das Amt des Andern über-
greift, ſo läßt ſich zudem der Grieche durch den Anſchein eines Abſchluſ-
ſes nicht abhalten, beſondere Natur- und Lebensſphären, welche im Grunde
unter Einen der Zwölfgötter ſchon befaßt ſind, noch beſonders zu vergöt-
tern. Der Dionyſosdienſt drang ein mit ſeinem heitern Kreiſe von Sa-
tyrn, Silenen, Mänaden, in welchen das Grobſinnliche und Thieriſche
der menſchlichen Natur ſeine beſondere Idealität innerhalb ſeines Bodens
durch orgiaſtiſchen Schwung erhält; das Geſchlecht der Centauren, dann
der Waldgötter, Pane, ſchließt ſich an ſie an. Aphrodite ſammelt den
erotiſchen Kreis um ſich, die Grazien ſind in ſeinem Gefolge. Das Ge-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/166>, abgerufen am 22.02.2025.
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