Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
Erhebung zu religiöser Bedeutung sein; vielmehr ihr dämmerndes Seelen- §. 433. 1 Das jüdische Volk bricht mit der Naturreligion, läßt aber einen Rest von
Erhebung zu religiöſer Bedeutung ſein; vielmehr ihr dämmerndes Seelen- §. 433. 1 Das jüdiſche Volk bricht mit der Naturreligion, läßt aber einen Reſt von <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0154" n="440"/> Erhebung zu religiöſer Bedeutung ſein; vielmehr ihr dämmerndes Seelen-<lb/> leben war es, worin der Aegyptier ein Geheimniß ahnte. Den Orientalen<lb/> erſcheint noch heute ein Wahnſinniger als ein höheres Weſen, das Traum-<lb/> leben der Seele galt dem ganzen Alterthum als Zuſtand, der einen Blick<lb/> gewähre in die Untiefe, woraus der wache Geiſt kommt. Das wache Ich<lb/> ſcheint durch die Reflexion von ſeinem Grunde ſich zu trennen, ein Abfall<lb/> zu ſein vom All. Gerade derjenigen Naturreligion, die auf der Schwelle<lb/> zur geiſtigen ſtand, mußte nun die Lebensform, welche zwiſchen der un-<lb/> beſeelten Natur und dem Ich, gefeſſelt an das Dunkel des Inſtincts, in<lb/> der Mitte ſteht, unendlich bedeutungsvoll erſcheinen. Das Thier ſcheint<lb/> ſo eben etwas ſagen zu wollen und nicht zu können; ebenſo dieſe Religion.<lb/> Dazu kam noch ein anderer Grund: das Thier iſt einfach, Eine Haupt-<lb/> eigenſchaft drängt ſich hervor; wie für die verſtändige Fabel, iſt es daher<lb/> für die dunkel ſuchende Symbolik ganz willkommen, ein vereinzeltes Mo-<lb/> ment der Idee auszudrücken. Nimmt man dazu den erſten Grund, ſo<lb/> hat man die zwei Seiten: das Thier eignet ſich zum Symbol um ſeiner<lb/> Einfachheit willen, aber was es als Symbol bedeutet, ſcheint ihm als<lb/> dunkle Seele wirklich einzuwohnen. Daher war den Aegyptiern das Thier<lb/> wirklich zwar Symbol, aber es wurde auch unmittelbar als Daſein des<lb/> Gottes verehrt. Dieß iſt mehr und weniger, als Symbol. Mehr: denn<lb/> allemal, wo die Bedeutung zur Seele eines concreten Weſens wird, iſt<lb/> Fortſchritt über das Symbol; weniger: denn das ſo von ſeiner Bedeu-<lb/> tung als lebendiger Seele warm durchdrungene Weſen ſoll zwar (auf dem<lb/> Standpunkte der Religion) geglaubt ſein, als exiſtire es, aber mit der<lb/> Einſchränkung, daß es in einem Jenſeits lebe, und dieſe Einſchränkung<lb/> hebt unbewußt den Irrthum jenes Glaubens auf; nun verſteht ſich, daß<lb/> dieſes ideale Weſen nur ein als abſolut vorgeſtellter Menſch ſein kann,<lb/> aber ein Thier und zwar nicht als blos vorgeſtellt, ſondern auch in ſeiner<lb/> unmittelbaren Wirklichkeit als göttlich verehren iſt tief unter der Sym-<lb/> bolik ſelbſt, iſt Fetiſchiſmus. Damit war es den Aegyptiern bitterer Ernſt;<lb/> wenn der Apis krepirte, ſo war, bis ein neuer gefunden war, ein Jam-<lb/> mer, als müßte die Welt, ihres Gottes beraubt, untergehen. So ver-<lb/> einigt die ägyptiſche Phantaſie ſämmtliche Arten der Naturreligion von<lb/> der gröbſten bis zur Schwelle des Bruches mit aller Naturreligion in<lb/> ſich, ſteht tief unter ſich und ſieht weit über ſich; ſie gleicht ganz der<lb/> eigenthümlichen Stellung, die der Affe an der Grenze zwiſchen Thier und<lb/> Menſch einnimmt.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 433.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">Das <hi rendition="#g">jüdiſche</hi> Volk bricht mit der Naturreligion, läßt aber einen Reſt von<lb/> ihr ſtehen, welcher zur Folge hat, daß ſich der Dualiſmus nun auf das Ver-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [440/0154]
Erhebung zu religiöſer Bedeutung ſein; vielmehr ihr dämmerndes Seelen-
leben war es, worin der Aegyptier ein Geheimniß ahnte. Den Orientalen
erſcheint noch heute ein Wahnſinniger als ein höheres Weſen, das Traum-
leben der Seele galt dem ganzen Alterthum als Zuſtand, der einen Blick
gewähre in die Untiefe, woraus der wache Geiſt kommt. Das wache Ich
ſcheint durch die Reflexion von ſeinem Grunde ſich zu trennen, ein Abfall
zu ſein vom All. Gerade derjenigen Naturreligion, die auf der Schwelle
zur geiſtigen ſtand, mußte nun die Lebensform, welche zwiſchen der un-
beſeelten Natur und dem Ich, gefeſſelt an das Dunkel des Inſtincts, in
der Mitte ſteht, unendlich bedeutungsvoll erſcheinen. Das Thier ſcheint
ſo eben etwas ſagen zu wollen und nicht zu können; ebenſo dieſe Religion.
Dazu kam noch ein anderer Grund: das Thier iſt einfach, Eine Haupt-
eigenſchaft drängt ſich hervor; wie für die verſtändige Fabel, iſt es daher
für die dunkel ſuchende Symbolik ganz willkommen, ein vereinzeltes Mo-
ment der Idee auszudrücken. Nimmt man dazu den erſten Grund, ſo
hat man die zwei Seiten: das Thier eignet ſich zum Symbol um ſeiner
Einfachheit willen, aber was es als Symbol bedeutet, ſcheint ihm als
dunkle Seele wirklich einzuwohnen. Daher war den Aegyptiern das Thier
wirklich zwar Symbol, aber es wurde auch unmittelbar als Daſein des
Gottes verehrt. Dieß iſt mehr und weniger, als Symbol. Mehr: denn
allemal, wo die Bedeutung zur Seele eines concreten Weſens wird, iſt
Fortſchritt über das Symbol; weniger: denn das ſo von ſeiner Bedeu-
tung als lebendiger Seele warm durchdrungene Weſen ſoll zwar (auf dem
Standpunkte der Religion) geglaubt ſein, als exiſtire es, aber mit der
Einſchränkung, daß es in einem Jenſeits lebe, und dieſe Einſchränkung
hebt unbewußt den Irrthum jenes Glaubens auf; nun verſteht ſich, daß
dieſes ideale Weſen nur ein als abſolut vorgeſtellter Menſch ſein kann,
aber ein Thier und zwar nicht als blos vorgeſtellt, ſondern auch in ſeiner
unmittelbaren Wirklichkeit als göttlich verehren iſt tief unter der Sym-
bolik ſelbſt, iſt Fetiſchiſmus. Damit war es den Aegyptiern bitterer Ernſt;
wenn der Apis krepirte, ſo war, bis ein neuer gefunden war, ein Jam-
mer, als müßte die Welt, ihres Gottes beraubt, untergehen. So ver-
einigt die ägyptiſche Phantaſie ſämmtliche Arten der Naturreligion von
der gröbſten bis zur Schwelle des Bruches mit aller Naturreligion in
ſich, ſteht tief unter ſich und ſieht weit über ſich; ſie gleicht ganz der
eigenthümlichen Stellung, die der Affe an der Grenze zwiſchen Thier und
Menſch einnimmt.
§. 433.
Das jüdiſche Volk bricht mit der Naturreligion, läßt aber einen Reſt von
ihr ſtehen, welcher zur Folge hat, daß ſich der Dualiſmus nun auf das Ver-
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