Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
alles Verwandte an ihn. So fließen in Faust alle Zauberer, in Eulen- 2. Die Sage hat also wirkliche Menschen zum Stoffe, steigert sie §. 429. Dualistisch ist aber die Phantasie des Morgenlands nicht nur in ihrer In Indien ist Brahma (als Neutrum; in den älteren Weden
alles Verwandte an ihn. So fließen in Fauſt alle Zauberer, in Eulen- 2. Die Sage hat alſo wirkliche Menſchen zum Stoffe, ſteigert ſie §. 429. Dualiſtiſch iſt aber die Phantaſie des Morgenlands nicht nur in ihrer In Indien iſt Brahma (als Neutrum; in den älteren Weden <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0140" n="426"/> alles Verwandte an ihn. So fließen in Fauſt alle Zauberer, in Eulen-<lb/> ſpiegel alle Schwänkemacher des Mittelalters zuſammen, ſo hängen ſich<lb/> an Odyſſeus die Schiffermährchen der Griechen u. ſ. w. Ja ſie verän-<lb/> dert wohl raſcher die Schickſale, als den Typus; ſo muß Dieterich von<lb/> Bern, damit ſich die Sage das Bild des geprüften, beſonnenen Helden<lb/> bewahre, ein unglücklicher Verbannter werden. An die Sage hängt ſich<lb/> dann überall da der Mythus, wo eine Grenze der Selbſterkenntniß oder<lb/> der Naturkenntniß auszufüllen iſt: ſo die Selbſtbezwingung des Achilles<lb/> im Streit mit Agamemnon, ſo die Peſt im griechiſchen Lager.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Die Sage hat alſo wirkliche Menſchen zum Stoffe, ſteigert ſie<lb/> aber bereits in die Tranſcendenz der zweiten, fictionären Stoffwelt, der<lb/> Mythus hängt ſich an ſie und vollendet dieſe Steigerung. Ebenſo greift<lb/> aber der Mythus in Alles und Jedes ein, was die unfreie Phantaſie<lb/> irgendwie aus der urſprünglichen Stoffwelt aufnimmt, und ſo haben wir<lb/> eben die Durchlöcherung der ganzen Wirklichkeit, von der wir ſchon mehr-<lb/> mals geſprochen. Man ſehe die Sokontala an; ſie beginnt rein menſch-<lb/> lich, führt dann ein übernatürliches Motiv der Kataſtrophe, Verluſt des<lb/> Gedächtnißes durch Verlorengehen eines Rings undramatiſch ein, führt<lb/> Held und Heldinn in die Lüfte und ſtößt allen Boden der Wirklichkeit<lb/> unter den Füßen weg. Es iſt unter <hi rendition="#sub">1</hi>. geſagt, daß der urſprüngliche<lb/> Stoff theils direct, theils in der Weiſe der Sage ergriffen werde; allein<lb/> des direct Ergriffenen bleibt unter den Einmiſchungen mythiſcher und ſagen-<lb/> hafter Phantaſie wenig oder nichts übrig, das wenige wunderlos Menſch-<lb/> liche und Natürliche verliert ſich in dem allgemeinen Zuge zum Wunder-<lb/> baren.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 429.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Dualiſtiſch iſt aber die Phantaſie des Morgenlands nicht nur in ihrer<lb/> ſymboliſchen Methode, ſondern auch in der Art des Stoffes, den ſie erdichtet.<lb/> Dieſer Dualiſmus ſpricht ſich als herrſchendes Geſetz der zweiten Stoffwelt<lb/> theils dadurch aus, daß neben den leeren Abgrund einer vorgeſtellten höchſten<lb/> Einheit ein reicher Geſtaltenkreis von Göttern fällt, theils in der Gegenüber-<lb/> ſtellung männlicher und weiblicher Gottheiten, theils aber und beſonders in dem<lb/> Kampfe eines guten und böſen Gottes.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">In Indien iſt Brahma (als Neutrum; in den älteren Weden<lb/> Atma genannt) das unterſchiedsloſe Urweſen, ihm gegenüber ſteht die<lb/> Trimurti und die üppige Fülle untergeordneter Götter und Geiſter. Das<lb/> Brahma hat die Maja, der Brahma die Saraswati, Wiſchnu die Lakſchmi,<lb/> Siwa die Parwaſi u. ſ. w. zum weiblichen Gegenbilde, das immer das<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [426/0140]
alles Verwandte an ihn. So fließen in Fauſt alle Zauberer, in Eulen-
ſpiegel alle Schwänkemacher des Mittelalters zuſammen, ſo hängen ſich
an Odyſſeus die Schiffermährchen der Griechen u. ſ. w. Ja ſie verän-
dert wohl raſcher die Schickſale, als den Typus; ſo muß Dieterich von
Bern, damit ſich die Sage das Bild des geprüften, beſonnenen Helden
bewahre, ein unglücklicher Verbannter werden. An die Sage hängt ſich
dann überall da der Mythus, wo eine Grenze der Selbſterkenntniß oder
der Naturkenntniß auszufüllen iſt: ſo die Selbſtbezwingung des Achilles
im Streit mit Agamemnon, ſo die Peſt im griechiſchen Lager.
2. Die Sage hat alſo wirkliche Menſchen zum Stoffe, ſteigert ſie
aber bereits in die Tranſcendenz der zweiten, fictionären Stoffwelt, der
Mythus hängt ſich an ſie und vollendet dieſe Steigerung. Ebenſo greift
aber der Mythus in Alles und Jedes ein, was die unfreie Phantaſie
irgendwie aus der urſprünglichen Stoffwelt aufnimmt, und ſo haben wir
eben die Durchlöcherung der ganzen Wirklichkeit, von der wir ſchon mehr-
mals geſprochen. Man ſehe die Sokontala an; ſie beginnt rein menſch-
lich, führt dann ein übernatürliches Motiv der Kataſtrophe, Verluſt des
Gedächtnißes durch Verlorengehen eines Rings undramatiſch ein, führt
Held und Heldinn in die Lüfte und ſtößt allen Boden der Wirklichkeit
unter den Füßen weg. Es iſt unter 1. geſagt, daß der urſprüngliche
Stoff theils direct, theils in der Weiſe der Sage ergriffen werde; allein
des direct Ergriffenen bleibt unter den Einmiſchungen mythiſcher und ſagen-
hafter Phantaſie wenig oder nichts übrig, das wenige wunderlos Menſch-
liche und Natürliche verliert ſich in dem allgemeinen Zuge zum Wunder-
baren.
§. 429.
Dualiſtiſch iſt aber die Phantaſie des Morgenlands nicht nur in ihrer
ſymboliſchen Methode, ſondern auch in der Art des Stoffes, den ſie erdichtet.
Dieſer Dualiſmus ſpricht ſich als herrſchendes Geſetz der zweiten Stoffwelt
theils dadurch aus, daß neben den leeren Abgrund einer vorgeſtellten höchſten
Einheit ein reicher Geſtaltenkreis von Göttern fällt, theils in der Gegenüber-
ſtellung männlicher und weiblicher Gottheiten, theils aber und beſonders in dem
Kampfe eines guten und böſen Gottes.
In Indien iſt Brahma (als Neutrum; in den älteren Weden
Atma genannt) das unterſchiedsloſe Urweſen, ihm gegenüber ſteht die
Trimurti und die üppige Fülle untergeordneter Götter und Geiſter. Das
Brahma hat die Maja, der Brahma die Saraswati, Wiſchnu die Lakſchmi,
Siwa die Parwaſi u. ſ. w. zum weiblichen Gegenbilde, das immer das
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