Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
Gebilde stehen da, als hätten sie sich selbst gemacht, als verständen sie §. 412. 1 Das Genie ist originell. Originalität als ein Schaffen dessen, was nie
Gebilde ſtehen da, als hätten ſie ſich ſelbſt gemacht, als verſtänden ſie §. 412. 1 Das Genie iſt originell. Originalität als ein Schaffen deſſen, was nie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0108" n="394"/> Gebilde ſtehen da, als hätten ſie ſich ſelbſt gemacht, als verſtänden ſie<lb/> ſich von ſelbſt: das Ei des Columbus; ihre Tiefe iſt ſtill und ruhig, ihre<lb/> Gewalt ſo ſanft und mäßig, als ſtark und übermenſchlich. Wir haben aus<lb/> dem Weſen der Phantaſie erſehen, wie ſich Nothwendigkeit und Freiheit,<lb/> Bewußtloſigkeit und Beſonnenheit in ihr verhält. Dieſe Einheit der Gegenſätze<lb/> hat aber ſelbſt wieder ihre Stadien; das Genie bricht zuerſt, auch durch<lb/> äußere Lebenshinderniſſe, wie ein wilder Strom durch und ſeine erſten<lb/> Geſtaltungen ſind ſtürmiſch, leidenſchaftlich, überſchwellend, oft formlos, doch<lb/> kündigt ſich die Grazie ſchon an. Es folgt die Selbſterkenntniß, daß es<lb/> ſo nicht bleiben könne, Zweifel, Kampf, inneres Unglück; aber das reine<lb/> Genie geht darin nicht zu Grunde, wie das fragmentariſche, ſeine Ge-<lb/> ſundheit iſt unzerſtörbar und ſo heilt es ſich durch eine glückliche Kriſe.<lb/> Der erſte Sturm der Production war zugleich noch mit perſönlicher, ſtoff-<lb/> artiger Leidenſchaft verwachſen; auch aus dieſer ringt ſich das Genie heraus<lb/> und ſammelt Stoff aus ihr. Nun aber iſt die Naturdichtung zu Ende,<lb/> die freie Selbſtbeſchränkung und Beſonnenheit, die Bildung durchdringt,<lb/> was dunkle Natur war. Dieſe Bildung iſt zugleich Fleiß, Mühe<lb/> der Arbeit am äußeren Stoffe: dieſe Seite laſſen wir noch liegen,<lb/> ſie iſt ohnedieß nur Wirkung der inneren Arbeit und Sammlung. Vorher<lb/> hatte das Genie alle heteronomiſche Geſetzgebung über den Haufen ge-<lb/> worfen, ohne eine neue zu ſchaffen, jetzt gibt es ſich ſelbſt ſein Geſetz<lb/> erhebt ſich zur reinen, freien Geſetzmäßigkeit. Dieſe dritte Stufe iſt aber<lb/> kein Abfall von der Natur und Nothwendigkeit; es iſt durchleuchtete Na-<lb/> tur, ausgegorener Wein, freie Nothwendigkeit, bewußtloſes Bewußtſein.<lb/> Im Kleinen aber und Einzelnen läßt auch das reife Genie manche Maſche<lb/> fallen, es iſt nicht ſo correct, als das Talent. Wer den Mantel in gro-<lb/> ßen Maſſen umſchlägt, kann nicht nach jeder kleinen Falte ſehen.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 412.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">Das Genie iſt originell. Originalität als ein Schaffen deſſen, was nie<lb/> dageweſen und als Ganzes nicht nachgeahmt werden kann, ſchließt eine nur<lb/> dem genievollen Subjecte eigene Weltanſchauung, ein ſchlechtweg neues Weltbild<lb/> in ſich. Allein dieß Weltbild iſt, indem es das Allerſubjectivſte iſt, vollkom-<lb/> men objectiv, die Sache ſelbſt; denn das Eigenſte des Genie’s iſt eben dieß,<lb/> daß es ein objectiver Menſch iſt. Genie iſt im Centrum und das Centrum;<lb/> weil es in ſich die reine Menſchheit findet, durchſchaut es auch das Innerſte<lb/> der Menſchheit außer ihm. Daher iſt das abſolut Neue, was es ſchafft, zu-<lb/><note place="left">2</note>gleich das Uralte, was in jedem Zuſchauer geſchlummert. Dadurch reißt das<lb/> Genie hin, bezwingt, wird „als die angeborene Gemüths-Anlage, durch welche<lb/> die Natur der Kunſt die Regel gibt“ (Kant) exemplariſch und bildet Schulen.</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [394/0108]
Gebilde ſtehen da, als hätten ſie ſich ſelbſt gemacht, als verſtänden ſie
ſich von ſelbſt: das Ei des Columbus; ihre Tiefe iſt ſtill und ruhig, ihre
Gewalt ſo ſanft und mäßig, als ſtark und übermenſchlich. Wir haben aus
dem Weſen der Phantaſie erſehen, wie ſich Nothwendigkeit und Freiheit,
Bewußtloſigkeit und Beſonnenheit in ihr verhält. Dieſe Einheit der Gegenſätze
hat aber ſelbſt wieder ihre Stadien; das Genie bricht zuerſt, auch durch
äußere Lebenshinderniſſe, wie ein wilder Strom durch und ſeine erſten
Geſtaltungen ſind ſtürmiſch, leidenſchaftlich, überſchwellend, oft formlos, doch
kündigt ſich die Grazie ſchon an. Es folgt die Selbſterkenntniß, daß es
ſo nicht bleiben könne, Zweifel, Kampf, inneres Unglück; aber das reine
Genie geht darin nicht zu Grunde, wie das fragmentariſche, ſeine Ge-
ſundheit iſt unzerſtörbar und ſo heilt es ſich durch eine glückliche Kriſe.
Der erſte Sturm der Production war zugleich noch mit perſönlicher, ſtoff-
artiger Leidenſchaft verwachſen; auch aus dieſer ringt ſich das Genie heraus
und ſammelt Stoff aus ihr. Nun aber iſt die Naturdichtung zu Ende,
die freie Selbſtbeſchränkung und Beſonnenheit, die Bildung durchdringt,
was dunkle Natur war. Dieſe Bildung iſt zugleich Fleiß, Mühe
der Arbeit am äußeren Stoffe: dieſe Seite laſſen wir noch liegen,
ſie iſt ohnedieß nur Wirkung der inneren Arbeit und Sammlung. Vorher
hatte das Genie alle heteronomiſche Geſetzgebung über den Haufen ge-
worfen, ohne eine neue zu ſchaffen, jetzt gibt es ſich ſelbſt ſein Geſetz
erhebt ſich zur reinen, freien Geſetzmäßigkeit. Dieſe dritte Stufe iſt aber
kein Abfall von der Natur und Nothwendigkeit; es iſt durchleuchtete Na-
tur, ausgegorener Wein, freie Nothwendigkeit, bewußtloſes Bewußtſein.
Im Kleinen aber und Einzelnen läßt auch das reife Genie manche Maſche
fallen, es iſt nicht ſo correct, als das Talent. Wer den Mantel in gro-
ßen Maſſen umſchlägt, kann nicht nach jeder kleinen Falte ſehen.
§. 412.
Das Genie iſt originell. Originalität als ein Schaffen deſſen, was nie
dageweſen und als Ganzes nicht nachgeahmt werden kann, ſchließt eine nur
dem genievollen Subjecte eigene Weltanſchauung, ein ſchlechtweg neues Weltbild
in ſich. Allein dieß Weltbild iſt, indem es das Allerſubjectivſte iſt, vollkom-
men objectiv, die Sache ſelbſt; denn das Eigenſte des Genie’s iſt eben dieß,
daß es ein objectiver Menſch iſt. Genie iſt im Centrum und das Centrum;
weil es in ſich die reine Menſchheit findet, durchſchaut es auch das Innerſte
der Menſchheit außer ihm. Daher iſt das abſolut Neue, was es ſchafft, zu-
gleich das Uralte, was in jedem Zuſchauer geſchlummert. Dadurch reißt das
Genie hin, bezwingt, wird „als die angeborene Gemüths-Anlage, durch welche
die Natur der Kunſt die Regel gibt“ (Kant) exemplariſch und bildet Schulen.
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