Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
dernisse und Verirrungen sich des rechten Weges wohl bewußt ist. Sie §. 411. Das reine und ungetheilte Wirken der Phantasie in einem Individuum Eigentlich hätten wir mit dem ersten Satze des §. Alles gesagt, denn
derniſſe und Verirrungen ſich des rechten Weges wohl bewußt iſt. Sie §. 411. Das reine und ungetheilte Wirken der Phantaſie in einem Individuum Eigentlich hätten wir mit dem erſten Satze des §. Alles geſagt, denn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0107" n="393"/> derniſſe und Verirrungen ſich des rechten Weges wohl bewußt iſt. Sie<lb/> werden immer von geringer Fruchtbarkeit ſein. Beiſpiele ſind Marlowe,<lb/> Günther, Bürger, Leop. Robert und And. Die blitzende, ſpringende und<lb/> unharmoniſche Form des fragmentariſchen Genie’s iſt es, die man ge-<lb/> wöhnlich geiſtreich, auf höherer Stufe (in einem Sinne des Adjectivs,<lb/> der von dem des Hauptworts abweicht) genial nennt.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 411.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Das reine und ungetheilte Wirken der Phantaſie in einem Individuum<lb/> iſt <hi rendition="#g">Genie</hi>. Sein inneres Thun iſt daher vor Allem ein geiſtiger Prozeß,<lb/> der durch urſprüngliche Gewalt, Fruchtbarkeit, Sicherheit, Nothwendigkeit, Ein-<lb/> falt und ſtille Tiefe, die ſich als Naivetät in der ganzen Perſönlichkeit kund<lb/> gibt, ebenſoſehr ein Naturprozeß iſt und daher, obzwar vom erſten Sturm und<lb/> Drang durch Kampf und Mühe, doch ſicher zum Ziele, zur freien Nothwen-<lb/> digkeit, die ſich ſelbſt das Geſetz gibt, zur Beſonnenheit, die doch Eingebung<lb/> bleibt, ſich hindurcharbeitet.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Eigentlich hätten wir mit dem erſten Satze des §. Alles geſagt, denn<lb/> was die Phantaſie iſt, haben wir geſehen. Doch bildet ſich der allge-<lb/> meine Begriff zu beſtimmteren Zügen, wenn er als lebensvolle Perſön-<lb/> lichkeit vor uns tritt. So, was in jenem Unmittelbarkeit, Nothwendig-<lb/> keit hieß, heißt jetzt weſentlich zuvörderſt ein Angebornes. Angeboren iſt<lb/> auch das Talent, das fragmentariſche Genie; aber was dieſen angeboren<lb/> iſt, ebendieß iſt bei jenem mehr ein Machen, als ein Sein, bei dieſem<lb/> ein Hereinbrechen des Seins in das Machen, und bei beiden entſteht<lb/> außer der angebornen Leichtigkeit des Machens auch ein erzwungenes<lb/> Machen. Das Genie aber iſt Vollblut. Intereſſant iſt, daß es meiſt<lb/> Erbe von der Mutter iſt; das weibliche Leben, das in Naturmitte webt,<lb/> iſt ſein geheimnißvoller Schooß. Das Genie iſt eine Urkraft, kündigt ſich<lb/> an wie eine Naturmacht. Es muß ſchaffen und Schönes ſchaffen, es<lb/> kann nichts dafür, es verwundert ſich ſelbſt über ſeine Gebilde und iſt<lb/> daher naiv in allen ſeinen Aeußerungen. Geiſterſchauer umweht dieſe Naturen<lb/> und wir treten in Scheue vor ihnen zurück, und doch ſind ſie, wie andere Leute<lb/> auch, zutraulich, kindlich, reine Menſchen; „ſtill, einfach, groß und noth-<lb/> wendig wie die Natur“ (Schelling Meth. d. ak. St. Vorl. 14). Die Stim-<lb/> mung kommt dem Genie nicht ſelten, ſondern iſt ſein natürlicher Zuſtand, es<lb/> ſprudelt von Fruchtbarkeit. Die Menge der Werke der großen Genien,<lb/> der griechiſchen, ſpaniſchen Dramatiker, Shakespeares, Göthes, der gro-<lb/> ßen Bildhauer Griechenlands, Maler Italiens, Spaniens, Belgiens iſt<lb/> wunderbar. Der Drang ſteigt bis zum Schmerz, läßt keine Ruhe. Die<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [393/0107]
derniſſe und Verirrungen ſich des rechten Weges wohl bewußt iſt. Sie
werden immer von geringer Fruchtbarkeit ſein. Beiſpiele ſind Marlowe,
Günther, Bürger, Leop. Robert und And. Die blitzende, ſpringende und
unharmoniſche Form des fragmentariſchen Genie’s iſt es, die man ge-
wöhnlich geiſtreich, auf höherer Stufe (in einem Sinne des Adjectivs,
der von dem des Hauptworts abweicht) genial nennt.
§. 411.
Das reine und ungetheilte Wirken der Phantaſie in einem Individuum
iſt Genie. Sein inneres Thun iſt daher vor Allem ein geiſtiger Prozeß,
der durch urſprüngliche Gewalt, Fruchtbarkeit, Sicherheit, Nothwendigkeit, Ein-
falt und ſtille Tiefe, die ſich als Naivetät in der ganzen Perſönlichkeit kund
gibt, ebenſoſehr ein Naturprozeß iſt und daher, obzwar vom erſten Sturm und
Drang durch Kampf und Mühe, doch ſicher zum Ziele, zur freien Nothwen-
digkeit, die ſich ſelbſt das Geſetz gibt, zur Beſonnenheit, die doch Eingebung
bleibt, ſich hindurcharbeitet.
Eigentlich hätten wir mit dem erſten Satze des §. Alles geſagt, denn
was die Phantaſie iſt, haben wir geſehen. Doch bildet ſich der allge-
meine Begriff zu beſtimmteren Zügen, wenn er als lebensvolle Perſön-
lichkeit vor uns tritt. So, was in jenem Unmittelbarkeit, Nothwendig-
keit hieß, heißt jetzt weſentlich zuvörderſt ein Angebornes. Angeboren iſt
auch das Talent, das fragmentariſche Genie; aber was dieſen angeboren
iſt, ebendieß iſt bei jenem mehr ein Machen, als ein Sein, bei dieſem
ein Hereinbrechen des Seins in das Machen, und bei beiden entſteht
außer der angebornen Leichtigkeit des Machens auch ein erzwungenes
Machen. Das Genie aber iſt Vollblut. Intereſſant iſt, daß es meiſt
Erbe von der Mutter iſt; das weibliche Leben, das in Naturmitte webt,
iſt ſein geheimnißvoller Schooß. Das Genie iſt eine Urkraft, kündigt ſich
an wie eine Naturmacht. Es muß ſchaffen und Schönes ſchaffen, es
kann nichts dafür, es verwundert ſich ſelbſt über ſeine Gebilde und iſt
daher naiv in allen ſeinen Aeußerungen. Geiſterſchauer umweht dieſe Naturen
und wir treten in Scheue vor ihnen zurück, und doch ſind ſie, wie andere Leute
auch, zutraulich, kindlich, reine Menſchen; „ſtill, einfach, groß und noth-
wendig wie die Natur“ (Schelling Meth. d. ak. St. Vorl. 14). Die Stim-
mung kommt dem Genie nicht ſelten, ſondern iſt ſein natürlicher Zuſtand, es
ſprudelt von Fruchtbarkeit. Die Menge der Werke der großen Genien,
der griechiſchen, ſpaniſchen Dramatiker, Shakespeares, Göthes, der gro-
ßen Bildhauer Griechenlands, Maler Italiens, Spaniens, Belgiens iſt
wunderbar. Der Drang ſteigt bis zum Schmerz, läßt keine Ruhe. Die
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