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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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mors. Auch von der gewichtigen Persönlichkeit, die zu substantiell ist, um
den Gehalt organisch in das Bild aufzuheben (Anm. 3) ist der Ueber-
schuß der Begeisterung wohl zu unterscheiden. Der Ethisirende und der
Pathetische können wohl, aber müssen nicht in Einer Person vereinigt
sein. Der andere Pol, zu viel Besonnenheit, wird oft von philosophi-
scher Richtung und Beschäftigung herrühren und dann allerdings mit
dem Didaktischen zusammenfallen, doch muß man einen Charakter des
Gemachten in der Anlage des Ganzen, wie z. B. in der Emilia Ga-
lotti, zunächst nur der Reflexion überhaupt, die stärker ist, als die Be-
geisterung, zuschreiben und als besondern Mangel hinstellen.

Es würde zu weit führen, wenn wir auch hier die Combinationen,
zunächst blos dieser Mängel und Störungen miteinander, verfolgen woll-
ten. Interessant wäre es namentlich, zu sehen, wie nicht blos der ver-
wandte Fehler mit dem verwandten, sondern auch scheinbar sich abstoßende:
z. B. altkluge Moral und kalte Besonnenheit mit allen Verirrungen der
Einbildungskraft (so Wieland und viele Romantiker, auch Eugen Sue)
sich verbinden. Das Zusammentreffen dieser Uebel mit den normalen
Arten der Phantasie ist im folg. §. zu erwähnen.

§. 407.

Die Phantasie des Individuums nun ist niemals auf eine der entwickel-
ten Arten beschränkt, sondern stellt irgend eine der unendlichen möglichen Ver-
bindungen derselben unter sich dar, so jedoch, daß eine Art das Bestimmende
in der Verschlingung bildet. Aber auch die zuletzt unterschiedenen Mängel und
Fehler verbinden sich in unendlichen Kreuzungen mit jenen Arten und jeder
individuellen Phantasie liegt daher irgend einer derselben nahe.

Nun also erst haben wir die Bedingungen der individuellen Phan-
tasie beisammen, soweit sie nämlich im Allgemeinen bestimmt werden kön-
nen, denn es fehlt noch eine ganze Welt von concreten Bedingungen.
Doch versuche man immer mit diesem Schlüssel irgend eine bedeutende
Künstlerphantasie zu öffnen und man wird finden, wie er sich bewährt.
Was die Mängel und Fehler betrifft, so zeigt ein Blick, welche unab-
sehliche Menge von Combinationen möglich ist; man bilde sich nur einige
Linien: welche Einseitigkeiten werden sich vornämlich mit den Arten von
§. 402, dann von §. 403, dann von §. 404, und welche ferner mit den
verschiedenen Combinationen dieser Arten verbinden? Z. B. mit der dich-
tenden Phantasie werden sich offenbar zwar auch alle andern, am leichte-
sten aber die Verirrungen des Gehalts ohne Form, der bloßen Stim-
mung, der überwiegenden Besonnenheit verbinden, und warum? Wir

mors. Auch von der gewichtigen Perſönlichkeit, die zu ſubſtantiell iſt, um
den Gehalt organiſch in das Bild aufzuheben (Anm. 3) iſt der Ueber-
ſchuß der Begeiſterung wohl zu unterſcheiden. Der Ethiſirende und der
Pathetiſche können wohl, aber müſſen nicht in Einer Perſon vereinigt
ſein. Der andere Pol, zu viel Beſonnenheit, wird oft von philoſophi-
ſcher Richtung und Beſchäftigung herrühren und dann allerdings mit
dem Didaktiſchen zuſammenfallen, doch muß man einen Charakter des
Gemachten in der Anlage des Ganzen, wie z. B. in der Emilia Ga-
lotti, zunächſt nur der Reflexion überhaupt, die ſtärker iſt, als die Be-
geiſterung, zuſchreiben und als beſondern Mangel hinſtellen.

Es würde zu weit führen, wenn wir auch hier die Combinationen,
zunächſt blos dieſer Mängel und Störungen miteinander, verfolgen woll-
ten. Intereſſant wäre es namentlich, zu ſehen, wie nicht blos der ver-
wandte Fehler mit dem verwandten, ſondern auch ſcheinbar ſich abſtoßende:
z. B. altkluge Moral und kalte Beſonnenheit mit allen Verirrungen der
Einbildungskraft (ſo Wieland und viele Romantiker, auch Eugen Sue)
ſich verbinden. Das Zuſammentreffen dieſer Uebel mit den normalen
Arten der Phantaſie iſt im folg. §. zu erwähnen.

§. 407.

Die Phantaſie des Individuums nun iſt niemals auf eine der entwickel-
ten Arten beſchränkt, ſondern ſtellt irgend eine der unendlichen möglichen Ver-
bindungen derſelben unter ſich dar, ſo jedoch, daß eine Art das Beſtimmende
in der Verſchlingung bildet. Aber auch die zuletzt unterſchiedenen Mängel und
Fehler verbinden ſich in unendlichen Kreuzungen mit jenen Arten und jeder
individuellen Phantaſie liegt daher irgend einer derſelben nahe.

Nun alſo erſt haben wir die Bedingungen der individuellen Phan-
taſie beiſammen, ſoweit ſie nämlich im Allgemeinen beſtimmt werden kön-
nen, denn es fehlt noch eine ganze Welt von concreten Bedingungen.
Doch verſuche man immer mit dieſem Schlüſſel irgend eine bedeutende
Künſtlerphantaſie zu öffnen und man wird finden, wie er ſich bewährt.
Was die Mängel und Fehler betrifft, ſo zeigt ein Blick, welche unab-
ſehliche Menge von Combinationen möglich iſt; man bilde ſich nur einige
Linien: welche Einſeitigkeiten werden ſich vornämlich mit den Arten von
§. 402, dann von §. 403, dann von §. 404, und welche ferner mit den
verſchiedenen Combinationen dieſer Arten verbinden? Z. B. mit der dich-
tenden Phantaſie werden ſich offenbar zwar auch alle andern, am leichte-
ſten aber die Verirrungen des Gehalts ohne Form, der bloßen Stim-
mung, der überwiegenden Beſonnenheit verbinden, und warum? Wir

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[387/0101] mors. Auch von der gewichtigen Perſönlichkeit, die zu ſubſtantiell iſt, um den Gehalt organiſch in das Bild aufzuheben (Anm. 3) iſt der Ueber- ſchuß der Begeiſterung wohl zu unterſcheiden. Der Ethiſirende und der Pathetiſche können wohl, aber müſſen nicht in Einer Perſon vereinigt ſein. Der andere Pol, zu viel Beſonnenheit, wird oft von philoſophi- ſcher Richtung und Beſchäftigung herrühren und dann allerdings mit dem Didaktiſchen zuſammenfallen, doch muß man einen Charakter des Gemachten in der Anlage des Ganzen, wie z. B. in der Emilia Ga- lotti, zunächſt nur der Reflexion überhaupt, die ſtärker iſt, als die Be- geiſterung, zuſchreiben und als beſondern Mangel hinſtellen. Es würde zu weit führen, wenn wir auch hier die Combinationen, zunächſt blos dieſer Mängel und Störungen miteinander, verfolgen woll- ten. Intereſſant wäre es namentlich, zu ſehen, wie nicht blos der ver- wandte Fehler mit dem verwandten, ſondern auch ſcheinbar ſich abſtoßende: z. B. altkluge Moral und kalte Beſonnenheit mit allen Verirrungen der Einbildungskraft (ſo Wieland und viele Romantiker, auch Eugen Sue) ſich verbinden. Das Zuſammentreffen dieſer Uebel mit den normalen Arten der Phantaſie iſt im folg. §. zu erwähnen. §. 407. Die Phantaſie des Individuums nun iſt niemals auf eine der entwickel- ten Arten beſchränkt, ſondern ſtellt irgend eine der unendlichen möglichen Ver- bindungen derſelben unter ſich dar, ſo jedoch, daß eine Art das Beſtimmende in der Verſchlingung bildet. Aber auch die zuletzt unterſchiedenen Mängel und Fehler verbinden ſich in unendlichen Kreuzungen mit jenen Arten und jeder individuellen Phantaſie liegt daher irgend einer derſelben nahe. Nun alſo erſt haben wir die Bedingungen der individuellen Phan- taſie beiſammen, ſoweit ſie nämlich im Allgemeinen beſtimmt werden kön- nen, denn es fehlt noch eine ganze Welt von concreten Bedingungen. Doch verſuche man immer mit dieſem Schlüſſel irgend eine bedeutende Künſtlerphantaſie zu öffnen und man wird finden, wie er ſich bewährt. Was die Mängel und Fehler betrifft, ſo zeigt ein Blick, welche unab- ſehliche Menge von Combinationen möglich iſt; man bilde ſich nur einige Linien: welche Einſeitigkeiten werden ſich vornämlich mit den Arten von §. 402, dann von §. 403, dann von §. 404, und welche ferner mit den verſchiedenen Combinationen dieſer Arten verbinden? Z. B. mit der dich- tenden Phantaſie werden ſich offenbar zwar auch alle andern, am leichte- ſten aber die Verirrungen des Gehalts ohne Form, der bloßen Stim- mung, der überwiegenden Beſonnenheit verbinden, und warum? Wir

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/101>, abgerufen am 21.11.2024.