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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Eindruck fossiler Pflanzen wie jener Palmenlager in nördlichen Ländern;
sie lebt wirklich ihr, nur muß noch der Schein geliehen werden, als erlebe
sie auch, was sie lebt. Wie ganz natürlich dieß Leihen vor sich geht,
zeigt die tägliche Erfahrung. Man hofft mit den Pflanzen, man sieht sie
an, als hätten sie Gefühl ihrer Kraft, man fühlt etwas wie Achtung vor
jenem Greise des Waldes, an dem so manche Geschlechter der Lebenden
vorübergegangen, man bedauert den vom Froste vernichteten Fruchtbaum,
die vom Blitz entwurzelte Eiche, als wäre ihr Schicksal tragisch, und man
wird durch seltsame, verworrene Formen nicht nur geisterhaft aufgeregt,
sondern wohl auch durch zufällige Mißgestaltung oder normale Sonderbarkeit
der Gestalt, wie z. B. bei Cactus und Orchideen, zum komischen Leihen
aufgefordert. Daher geht auch die Vorliebe für gewisse Formen Hand in
Hand mit der Stimmungsweise einer Zeit. Die sentimentale Periode
z. B. liebte durchaus absterbende oder abgestorbene Bäume; dieß hing
freilich auch mit ihrer Kunst-Manier zusammen, welche das Bestimmte und
Tüchtige verachtete, das Unbestimmte, Zerfahrene suchte und durch die
Darstellung desselben mit der Zufälligkeit der Natur in einer geistreichen
Nachläßigkeit zu wetteifern meinte; ein Hauptgrund lag aber doch im
Nebelhaften der Empfindsamkeit, dem zerfallene Formen willkommen waren.
Wie ganz anders zeigt sich Göthe, wenn er in Hermann und Dorothea
den Segen des Anbaus und den noch immer kräftigen und wohlthätigen
Schatten spendenden Birnbaum bei Hermanns väterlichem Hause schildert.

§. 273.

Die Gestalt der Pflanze gliedert sich im Allgemeinen als ein Gegensatz
der senkrecht aufsteigenden und der von dieser wagrecht abstehenden, je nach der
Verschiedenheit der Neigung verschiedene Winkel mit ihr bildenden Linie. Jene
stellt sich im Stengel oder Stamm dar, welcher die Vermittlung zwischen den
beiden die Nahrung aufnehmenden Extremen, der im Schooß der Erde verbor-
genen, saugenden Wurzel und den athmenden Blättern übernimmt und als der
unlebendigste Theil erscheint, diese in den vom Stamm abstehenden Aesten mit
ihren Zweigen und Blättern. Zugleich aber tritt das Runde auf in der Walze
des Stammes und der Anordnung der Aeste um den Stamm, welche bei den
bedeutenderen Pflanzengebilden in Verbindung mit der Umhüllung der Blätter
bald mehr die Form der Kugel, bald mehr des Kegels darstellt. Die An-
ordnung der Blätter am Zweige ist von einem festen Gesetze der Symmetrie
bedingt und so scheint sich eine Gestalt von krystallischer Regelmäßigkeit
herzustellen.

Bei dieser Darstellung der Grundgestalt der Pflanze ist wesentlich
die Baumform im Auge gehalten. Der Verlauf wird zeigen, warum die

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Eindruck foſſiler Pflanzen wie jener Palmenlager in nördlichen Ländern;
ſie lebt wirklich ihr, nur muß noch der Schein geliehen werden, als erlebe
ſie auch, was ſie lebt. Wie ganz natürlich dieß Leihen vor ſich geht,
zeigt die tägliche Erfahrung. Man hofft mit den Pflanzen, man ſieht ſie
an, als hätten ſie Gefühl ihrer Kraft, man fühlt etwas wie Achtung vor
jenem Greiſe des Waldes, an dem ſo manche Geſchlechter der Lebenden
vorübergegangen, man bedauert den vom Froſte vernichteten Fruchtbaum,
die vom Blitz entwurzelte Eiche, als wäre ihr Schickſal tragiſch, und man
wird durch ſeltſame, verworrene Formen nicht nur geiſterhaft aufgeregt,
ſondern wohl auch durch zufällige Mißgeſtaltung oder normale Sonderbarkeit
der Geſtalt, wie z. B. bei Cactus und Orchideen, zum komiſchen Leihen
aufgefordert. Daher geht auch die Vorliebe für gewiſſe Formen Hand in
Hand mit der Stimmungsweiſe einer Zeit. Die ſentimentale Periode
z. B. liebte durchaus abſterbende oder abgeſtorbene Bäume; dieß hing
freilich auch mit ihrer Kunſt-Manier zuſammen, welche das Beſtimmte und
Tüchtige verachtete, das Unbeſtimmte, Zerfahrene ſuchte und durch die
Darſtellung desſelben mit der Zufälligkeit der Natur in einer geiſtreichen
Nachläßigkeit zu wetteifern meinte; ein Hauptgrund lag aber doch im
Nebelhaften der Empfindſamkeit, dem zerfallene Formen willkommen waren.
Wie ganz anders zeigt ſich Göthe, wenn er in Hermann und Dorothea
den Segen des Anbaus und den noch immer kräftigen und wohlthätigen
Schatten ſpendenden Birnbaum bei Hermanns väterlichem Hauſe ſchildert.

§. 273.

Die Geſtalt der Pflanze gliedert ſich im Allgemeinen als ein Gegenſatz
der ſenkrecht aufſteigenden und der von dieſer wagrecht abſtehenden, je nach der
Verſchiedenheit der Neigung verſchiedene Winkel mit ihr bildenden Linie. Jene
ſtellt ſich im Stengel oder Stamm dar, welcher die Vermittlung zwiſchen den
beiden die Nahrung aufnehmenden Extremen, der im Schooß der Erde verbor-
genen, ſaugenden Wurzel und den athmenden Blättern übernimmt und als der
unlebendigſte Theil erſcheint, dieſe in den vom Stamm abſtehenden Aeſten mit
ihren Zweigen und Blättern. Zugleich aber tritt das Runde auf in der Walze
des Stammes und der Anordnung der Aeſte um den Stamm, welche bei den
bedeutenderen Pflanzengebilden in Verbindung mit der Umhüllung der Blätter
bald mehr die Form der Kugel, bald mehr des Kegels darſtellt. Die An-
ordnung der Blätter am Zweige iſt von einem feſten Geſetze der Symmetrie
bedingt und ſo ſcheint ſich eine Geſtalt von kryſtalliſcher Regelmäßigkeit
herzuſtellen.

Bei dieſer Darſtellung der Grundgeſtalt der Pflanze iſt weſentlich
die Baumform im Auge gehalten. Der Verlauf wird zeigen, warum die

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[83/0095] Eindruck foſſiler Pflanzen wie jener Palmenlager in nördlichen Ländern; ſie lebt wirklich ihr, nur muß noch der Schein geliehen werden, als erlebe ſie auch, was ſie lebt. Wie ganz natürlich dieß Leihen vor ſich geht, zeigt die tägliche Erfahrung. Man hofft mit den Pflanzen, man ſieht ſie an, als hätten ſie Gefühl ihrer Kraft, man fühlt etwas wie Achtung vor jenem Greiſe des Waldes, an dem ſo manche Geſchlechter der Lebenden vorübergegangen, man bedauert den vom Froſte vernichteten Fruchtbaum, die vom Blitz entwurzelte Eiche, als wäre ihr Schickſal tragiſch, und man wird durch ſeltſame, verworrene Formen nicht nur geiſterhaft aufgeregt, ſondern wohl auch durch zufällige Mißgeſtaltung oder normale Sonderbarkeit der Geſtalt, wie z. B. bei Cactus und Orchideen, zum komiſchen Leihen aufgefordert. Daher geht auch die Vorliebe für gewiſſe Formen Hand in Hand mit der Stimmungsweiſe einer Zeit. Die ſentimentale Periode z. B. liebte durchaus abſterbende oder abgeſtorbene Bäume; dieß hing freilich auch mit ihrer Kunſt-Manier zuſammen, welche das Beſtimmte und Tüchtige verachtete, das Unbeſtimmte, Zerfahrene ſuchte und durch die Darſtellung desſelben mit der Zufälligkeit der Natur in einer geiſtreichen Nachläßigkeit zu wetteifern meinte; ein Hauptgrund lag aber doch im Nebelhaften der Empfindſamkeit, dem zerfallene Formen willkommen waren. Wie ganz anders zeigt ſich Göthe, wenn er in Hermann und Dorothea den Segen des Anbaus und den noch immer kräftigen und wohlthätigen Schatten ſpendenden Birnbaum bei Hermanns väterlichem Hauſe ſchildert. §. 273. Die Geſtalt der Pflanze gliedert ſich im Allgemeinen als ein Gegenſatz der ſenkrecht aufſteigenden und der von dieſer wagrecht abſtehenden, je nach der Verſchiedenheit der Neigung verſchiedene Winkel mit ihr bildenden Linie. Jene ſtellt ſich im Stengel oder Stamm dar, welcher die Vermittlung zwiſchen den beiden die Nahrung aufnehmenden Extremen, der im Schooß der Erde verbor- genen, ſaugenden Wurzel und den athmenden Blättern übernimmt und als der unlebendigſte Theil erſcheint, dieſe in den vom Stamm abſtehenden Aeſten mit ihren Zweigen und Blättern. Zugleich aber tritt das Runde auf in der Walze des Stammes und der Anordnung der Aeſte um den Stamm, welche bei den bedeutenderen Pflanzengebilden in Verbindung mit der Umhüllung der Blätter bald mehr die Form der Kugel, bald mehr des Kegels darſtellt. Die An- ordnung der Blätter am Zweige iſt von einem feſten Geſetze der Symmetrie bedingt und ſo ſcheint ſich eine Geſtalt von kryſtalliſcher Regelmäßigkeit herzuſtellen. Bei dieſer Darſtellung der Grundgeſtalt der Pflanze iſt weſentlich die Baumform im Auge gehalten. Der Verlauf wird zeigen, warum die 6*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/95>, abgerufen am 21.11.2024.