Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

zu sehen; er erscheint, frei behandelt, genremäßig statt historisch, weil man
darin aufgewachsen ist, hier als Bedingung des historischen Gewichts die
mythische Erhöhung zu fordern. Die Geschichte aller orientalischen Völker
ist fabelhaft, unser Geist ist frei von diesen Fabeln, die jüdischen Sagen
dagegen beherrschen noch das Bewußtsein der Menschen. Befreit nun
der Einzelne sein Bewußtsein auch von diesen, so beengt es ihn in der
Behandlung des Stoffs, daß hier ein Volk ist, das durch Aufhebung des
Polytheismus zu der Erwartung führt, daß es reine Geschichte habe, und
das dennoch seine Geschichte ebenfalls mit Wundersagen durchflicht. Und
diese Wundersagen gehen alle auf die particuläre Theokratie dieses Volks,
das so eigen unter den alten Völkern steht wie ein rigoroser junger Mensch
unter lustigen Studenten. Alles hat ein Geschmäckchen. Die Zerstörung
Jerusalems dagegen gehört der freieren Geschichte an und wäre ein rein
ästhetischer Stoff voll unendlich großer Motive.

Mitte.
§. 348.

Dieser Dualismus beruhigt sich zum schönen Ebenmaß im Volke der
Griechen. Das kleine Land bedingt durch seine Natur die glückliche Mitte1
zwischen Arbeit und Genuß, ruhigem Stillstand und Anspannung, Sammlung
und Zerstreuung. In der Manuigfaltigkeit der Stämme ergänzt sich wechsel-
seitig der Gegensatz zweier Hauptstämme. Der leibliche Typus spricht reines2
Gleichgewicht des Temperaments und der Anlage überhaupt aus, in allen3
äußeren Culturformen ist das Nothwendige in Freiheit und Leichtigkeit umge-
schaffen, ohne in den Schwulst des Ueberflusses zu verfallen; ein heiterer Cultus
und herrliche Spiele geben dem freudigen Ernsie des Daseins festlichen Ausdruck.

1. Daß nur im kleinen Lande das griechische Leben entstehen konnte,
ist schon oft bemerkt worden. In den weiten Stromthälern, den breiten
Küstenländern des Orients wimmeln die Menschenmassen unabsehlich hin
und nur der weitgreifende Zwang des Priesters und Despoten kann sie
zusammenhalten. Freie Menschen müssen sich sehen, sprechen, versammeln
können, nur im übersichtlich geschlossenen Raume war dieß innerlich bewegte,
compacte Staatsleben möglich. Die nähere Gestalt Griechenlands nun
erscheint auf den ersten Anblick viel rauher, als man erwartete, von der
Höhe übersehen gleicht es einem Meere von versteinerten Wellen, ganz
durchästet von rauhen, einst allerdings mehr bewaldeten, Felsgebirgen.
Da erinnert man sich, daß die Griechen so süß und geschmeidig nicht
waren, wie sich der Schöngeist sie vorstellt, daß ihre schöne Bildung auf

zu ſehen; er erſcheint, frei behandelt, genremäßig ſtatt hiſtoriſch, weil man
darin aufgewachſen iſt, hier als Bedingung des hiſtoriſchen Gewichts die
mythiſche Erhöhung zu fordern. Die Geſchichte aller orientaliſchen Völker
iſt fabelhaft, unſer Geiſt iſt frei von dieſen Fabeln, die jüdiſchen Sagen
dagegen beherrſchen noch das Bewußtſein der Menſchen. Befreit nun
der Einzelne ſein Bewußtſein auch von dieſen, ſo beengt es ihn in der
Behandlung des Stoffs, daß hier ein Volk iſt, das durch Aufhebung des
Polytheiſmus zu der Erwartung führt, daß es reine Geſchichte habe, und
das dennoch ſeine Geſchichte ebenfalls mit Wunderſagen durchflicht. Und
dieſe Wunderſagen gehen alle auf die particuläre Theokratie dieſes Volks,
das ſo eigen unter den alten Völkern ſteht wie ein rigoroſer junger Menſch
unter luſtigen Studenten. Alles hat ein Geſchmäckchen. Die Zerſtörung
Jeruſalems dagegen gehört der freieren Geſchichte an und wäre ein rein
äſthetiſcher Stoff voll unendlich großer Motive.

Mitte.
§. 348.

Dieſer Dualiſmus beruhigt ſich zum ſchönen Ebenmaß im Volke der
Griechen. Das kleine Land bedingt durch ſeine Natur die glückliche Mitte1
zwiſchen Arbeit und Genuß, ruhigem Stillſtand und Anſpannung, Sammlung
und Zerſtreuung. In der Manuigfaltigkeit der Stämme ergänzt ſich wechſel-
ſeitig der Gegenſatz zweier Hauptſtämme. Der leibliche Typus ſpricht reines2
Gleichgewicht des Temperaments und der Anlage überhaupt aus, in allen3
äußeren Culturformen iſt das Nothwendige in Freiheit und Leichtigkeit umge-
ſchaffen, ohne in den Schwulſt des Ueberfluſſes zu verfallen; ein heiterer Cultus
und herrliche Spiele geben dem freudigen Ernſie des Daſeins feſtlichen Ausdruck.

1. Daß nur im kleinen Lande das griechiſche Leben entſtehen konnte,
iſt ſchon oft bemerkt worden. In den weiten Stromthälern, den breiten
Küſtenländern des Orients wimmeln die Menſchenmaſſen unabſehlich hin
und nur der weitgreifende Zwang des Prieſters und Deſpoten kann ſie
zuſammenhalten. Freie Menſchen müſſen ſich ſehen, ſprechen, verſammeln
können, nur im überſichtlich geſchloſſenen Raume war dieß innerlich bewegte,
compacte Staatsleben möglich. Die nähere Geſtalt Griechenlands nun
erſcheint auf den erſten Anblick viel rauher, als man erwartete, von der
Höhe überſehen gleicht es einem Meere von verſteinerten Wellen, ganz
durchäſtet von rauhen, einſt allerdings mehr bewaldeten, Felsgebirgen.
Da erinnert man ſich, daß die Griechen ſo ſüß und geſchmeidig nicht
waren, wie ſich der Schöngeiſt ſie vorſtellt, daß ihre ſchöne Bildung auf

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0245" n="233"/>
zu &#x017F;ehen; er er&#x017F;cheint, frei behandelt, genremäßig &#x017F;tatt hi&#x017F;tori&#x017F;ch, weil man<lb/>
darin aufgewach&#x017F;en i&#x017F;t, hier als Bedingung des hi&#x017F;tori&#x017F;chen Gewichts die<lb/>
mythi&#x017F;che Erhöhung zu fordern. Die Ge&#x017F;chichte aller orientali&#x017F;chen Völker<lb/>
i&#x017F;t fabelhaft, un&#x017F;er Gei&#x017F;t i&#x017F;t frei von die&#x017F;en Fabeln, die jüdi&#x017F;chen Sagen<lb/>
dagegen beherr&#x017F;chen noch das Bewußt&#x017F;ein der Men&#x017F;chen. Befreit nun<lb/>
der Einzelne &#x017F;ein Bewußt&#x017F;ein auch von die&#x017F;en, &#x017F;o beengt es ihn in der<lb/>
Behandlung des Stoffs, daß hier ein Volk i&#x017F;t, das durch Aufhebung des<lb/>
Polythei&#x017F;mus zu der Erwartung führt, daß es reine Ge&#x017F;chichte habe, und<lb/>
das dennoch &#x017F;eine Ge&#x017F;chichte ebenfalls mit Wunder&#x017F;agen durchflicht. Und<lb/>
die&#x017F;e Wunder&#x017F;agen gehen alle auf die particuläre Theokratie die&#x017F;es Volks,<lb/>
das &#x017F;o eigen unter den alten Völkern &#x017F;teht wie ein rigoro&#x017F;er junger Men&#x017F;ch<lb/>
unter lu&#x017F;tigen Studenten. Alles hat ein Ge&#x017F;chmäckchen. Die Zer&#x017F;törung<lb/>
Jeru&#x017F;alems dagegen gehört der freieren Ge&#x017F;chichte an und wäre ein rein<lb/>
ä&#x017F;theti&#x017F;cher Stoff voll unendlich großer Motive.</hi> </p>
                  </div>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Mitte</hi>.</hi> </head><lb/>
                  <div n="7">
                    <head>§. 348.</head><lb/>
                    <p> <hi rendition="#fr">Die&#x017F;er Duali&#x017F;mus beruhigt &#x017F;ich zum &#x017F;chönen Ebenmaß im Volke der<lb/><hi rendition="#g">Griechen</hi>. Das kleine Land bedingt durch &#x017F;eine Natur die glückliche Mitte<note place="right">1</note><lb/>
zwi&#x017F;chen Arbeit und Genuß, ruhigem Still&#x017F;tand und An&#x017F;pannung, Sammlung<lb/>
und Zer&#x017F;treuung. In der Manuigfaltigkeit der Stämme ergänzt &#x017F;ich wech&#x017F;el-<lb/>
&#x017F;eitig der Gegen&#x017F;atz zweier Haupt&#x017F;tämme. Der leibliche Typus &#x017F;pricht reines<note place="right">2</note><lb/>
Gleichgewicht des Temperaments und der Anlage überhaupt aus, in allen<note place="right">3</note><lb/>
äußeren Culturformen i&#x017F;t das Nothwendige in Freiheit und Leichtigkeit umge-<lb/>
&#x017F;chaffen, ohne in den Schwul&#x017F;t des Ueberflu&#x017F;&#x017F;es zu verfallen; ein heiterer Cultus<lb/>
und herrliche Spiele geben dem freudigen Ern&#x017F;ie des Da&#x017F;eins fe&#x017F;tlichen Ausdruck.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">1. Daß nur im kleinen Lande das griechi&#x017F;che Leben ent&#x017F;tehen konnte,<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;chon oft bemerkt worden. In den weiten Stromthälern, den breiten<lb/>&#x017F;tenländern des Orients wimmeln die Men&#x017F;chenma&#x017F;&#x017F;en unab&#x017F;ehlich hin<lb/>
und nur der weitgreifende Zwang des Prie&#x017F;ters und De&#x017F;poten kann &#x017F;ie<lb/>
zu&#x017F;ammenhalten. Freie Men&#x017F;chen mü&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich &#x017F;ehen, &#x017F;prechen, ver&#x017F;ammeln<lb/>
können, nur im über&#x017F;ichtlich ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Raume war dieß innerlich bewegte,<lb/>
compacte Staatsleben möglich. Die nähere Ge&#x017F;talt Griechenlands nun<lb/>
er&#x017F;cheint auf den er&#x017F;ten Anblick viel rauher, als man erwartete, von der<lb/>
Höhe über&#x017F;ehen gleicht es einem Meere von ver&#x017F;teinerten Wellen, ganz<lb/>
durchä&#x017F;tet von rauhen, ein&#x017F;t allerdings mehr bewaldeten, Felsgebirgen.<lb/>
Da erinnert man &#x017F;ich, daß die Griechen &#x017F;o &#x017F;üß und ge&#x017F;chmeidig nicht<lb/>
waren, wie &#x017F;ich der Schöngei&#x017F;t &#x017F;ie vor&#x017F;tellt, daß ihre &#x017F;chöne Bildung auf<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[233/0245] zu ſehen; er erſcheint, frei behandelt, genremäßig ſtatt hiſtoriſch, weil man darin aufgewachſen iſt, hier als Bedingung des hiſtoriſchen Gewichts die mythiſche Erhöhung zu fordern. Die Geſchichte aller orientaliſchen Völker iſt fabelhaft, unſer Geiſt iſt frei von dieſen Fabeln, die jüdiſchen Sagen dagegen beherrſchen noch das Bewußtſein der Menſchen. Befreit nun der Einzelne ſein Bewußtſein auch von dieſen, ſo beengt es ihn in der Behandlung des Stoffs, daß hier ein Volk iſt, das durch Aufhebung des Polytheiſmus zu der Erwartung führt, daß es reine Geſchichte habe, und das dennoch ſeine Geſchichte ebenfalls mit Wunderſagen durchflicht. Und dieſe Wunderſagen gehen alle auf die particuläre Theokratie dieſes Volks, das ſo eigen unter den alten Völkern ſteht wie ein rigoroſer junger Menſch unter luſtigen Studenten. Alles hat ein Geſchmäckchen. Die Zerſtörung Jeruſalems dagegen gehört der freieren Geſchichte an und wäre ein rein äſthetiſcher Stoff voll unendlich großer Motive. Mitte. §. 348. Dieſer Dualiſmus beruhigt ſich zum ſchönen Ebenmaß im Volke der Griechen. Das kleine Land bedingt durch ſeine Natur die glückliche Mitte zwiſchen Arbeit und Genuß, ruhigem Stillſtand und Anſpannung, Sammlung und Zerſtreuung. In der Manuigfaltigkeit der Stämme ergänzt ſich wechſel- ſeitig der Gegenſatz zweier Hauptſtämme. Der leibliche Typus ſpricht reines Gleichgewicht des Temperaments und der Anlage überhaupt aus, in allen äußeren Culturformen iſt das Nothwendige in Freiheit und Leichtigkeit umge- ſchaffen, ohne in den Schwulſt des Ueberfluſſes zu verfallen; ein heiterer Cultus und herrliche Spiele geben dem freudigen Ernſie des Daſeins feſtlichen Ausdruck. 1. Daß nur im kleinen Lande das griechiſche Leben entſtehen konnte, iſt ſchon oft bemerkt worden. In den weiten Stromthälern, den breiten Küſtenländern des Orients wimmeln die Menſchenmaſſen unabſehlich hin und nur der weitgreifende Zwang des Prieſters und Deſpoten kann ſie zuſammenhalten. Freie Menſchen müſſen ſich ſehen, ſprechen, verſammeln können, nur im überſichtlich geſchloſſenen Raume war dieß innerlich bewegte, compacte Staatsleben möglich. Die nähere Geſtalt Griechenlands nun erſcheint auf den erſten Anblick viel rauher, als man erwartete, von der Höhe überſehen gleicht es einem Meere von verſteinerten Wellen, ganz durchäſtet von rauhen, einſt allerdings mehr bewaldeten, Felsgebirgen. Da erinnert man ſich, daß die Griechen ſo ſüß und geſchmeidig nicht waren, wie ſich der Schöngeiſt ſie vorſtellt, daß ihre ſchöne Bildung auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/245
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/245>, abgerufen am 21.11.2024.