Aus den verschlungenen Wurzeln dieses Bodens wächst das Individuum.1 Von der einen Seite faßt sich in ihm die Naturseite dieses ganzen Bodens, nämlich die leibliche Bildung und die Seelen-Anlage des Volks, des Stamms, der Familie zu der unendlichen, keinem Thiere so zukommenden Eigenheit einer angeborenen Körperbildung und Sinnesweise zusammen. Die letztere webt in dem Dunkel der natürlichen Grundstimmung; diese oder das Temperament und mit ihm das Naturell überhaupt tritt nun erst in seiner ganzen Bedeutung für die Aesthetik hervor. Die vier Temperamente, welche man richtig unterscheidet,2 verwickeln sich in jedem Einzelnen, während das Volkstemperament (§. 326) die Unterlage bildet, zu einem unberechenbaren Ganzen, in welchem eines derselben hervorsticht.
1. Wir haben nun die Momente zu sammeln, deren Concretion der Charakter ist. Am meisten scheint uns einer erschöpfenden Ent- wicklung dieses complicirten Begriffs Rötscher durch s. Abh. über das Wesen der dramat. Charaktergestaltung (Cyclus dramat. Charaktere oder die Kunst der dramat. Darst. Thl. 2.) vorgearbeitet zu haben. Wir unterscheiden, von seiner Anordnung übrigens abweichend, zwei Reihen von Momenten der Allgemeinheit und Besonderheit, die sich zur Spitze der Individualität zusammenfassen; zuerst im gegenwärtigen §. die Reihe der Momente auf der Naturseite. Unter diesen ist außer Volk, Stamm namentlich die Familie wichtig; man kennt die eingewurzelt vererbende Körperbildung und seelische Richtung einzelner Familien. Selbst in der alten Tragödie ist der wilde Sinn, der sich in einzelnen Häusern vererbt, ein Hebel; engere Disposition für gewisse Lebenssphären, schärfere Eigenheit einzelner Familien ist natürlich moderner: ein Punkt, wovon an seinem Ort mehr. Alles nun, was durch Fortpflanzung in den Einzelnen übergeht, faßt sich in jedem zu unendlich neuer und eigener Mischung zusammen. Er ist nur sich selbst gleich. Dieß mußte in der metaphysischen Begründung schon ausgesprochen werden, vergl. §. 31 ff. In wem die Eigenheit so schwach ist, daß man sie kaum wahrnimmt, der ist kein ästhetischer, oder ein nur sehr untergeordneter Stoff.
2. Die Temperamente zu zählen, zu schildern, zu begründen und zu erklären, ist die Aesthetik nicht schuldig, sie nimmt dieß aus der Anthro- pologie auf. Man mag mit Kant zwei Temperamente des Gefühls
Vischer's Aesthetik. 2. Band. 13
γ Die individuellen Formen.
§. 331.
Aus den verſchlungenen Wurzeln dieſes Bodens wächst das Individuum.1 Von der einen Seite faßt ſich in ihm die Naturſeite dieſes ganzen Bodens, nämlich die leibliche Bildung und die Seelen-Anlage des Volks, des Stamms, der Familie zu der unendlichen, keinem Thiere ſo zukommenden Eigenheit einer angeborenen Körperbildung und Sinnesweiſe zuſammen. Die letztere webt in dem Dunkel der natürlichen Grundſtimmung; dieſe oder das Temperament und mit ihm das Naturell überhaupt tritt nun erſt in ſeiner ganzen Bedeutung für die Aeſthetik hervor. Die vier Temperamente, welche man richtig unterſcheidet,2 verwickeln ſich in jedem Einzelnen, während das Volkstemperament (§. 326) die Unterlage bildet, zu einem unberechenbaren Ganzen, in welchem eines derſelben hervorſticht.
1. Wir haben nun die Momente zu ſammeln, deren Concretion der Charakter iſt. Am meiſten ſcheint uns einer erſchöpfenden Ent- wicklung dieſes complicirten Begriffs Rötſcher durch ſ. Abh. über das Weſen der dramat. Charaktergeſtaltung (Cyclus dramat. Charaktere oder die Kunſt der dramat. Darſt. Thl. 2.) vorgearbeitet zu haben. Wir unterſcheiden, von ſeiner Anordnung übrigens abweichend, zwei Reihen von Momenten der Allgemeinheit und Beſonderheit, die ſich zur Spitze der Individualität zuſammenfaſſen; zuerſt im gegenwärtigen §. die Reihe der Momente auf der Naturſeite. Unter dieſen iſt außer Volk, Stamm namentlich die Familie wichtig; man kennt die eingewurzelt vererbende Körperbildung und ſeeliſche Richtung einzelner Familien. Selbſt in der alten Tragödie iſt der wilde Sinn, der ſich in einzelnen Häuſern vererbt, ein Hebel; engere Diſpoſition für gewiſſe Lebensſphären, ſchärfere Eigenheit einzelner Familien iſt natürlich moderner: ein Punkt, wovon an ſeinem Ort mehr. Alles nun, was durch Fortpflanzung in den Einzelnen übergeht, faßt ſich in jedem zu unendlich neuer und eigener Miſchung zuſammen. Er iſt nur ſich ſelbſt gleich. Dieß mußte in der metaphyſiſchen Begründung ſchon ausgeſprochen werden, vergl. §. 31 ff. In wem die Eigenheit ſo ſchwach iſt, daß man ſie kaum wahrnimmt, der iſt kein äſthetiſcher, oder ein nur ſehr untergeordneter Stoff.
2. Die Temperamente zu zählen, zu ſchildern, zu begründen und zu erklären, iſt die Aeſthetik nicht ſchuldig, ſie nimmt dieß aus der Anthro- pologie auf. Man mag mit Kant zwei Temperamente des Gefühls
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 13
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γ
Die individuellen Formen.
§. 331.
Aus den verſchlungenen Wurzeln dieſes Bodens wächst das Individuum.
Von der einen Seite faßt ſich in ihm die Naturſeite dieſes ganzen Bodens,
nämlich die leibliche Bildung und die Seelen-Anlage des Volks, des Stamms,
der Familie zu der unendlichen, keinem Thiere ſo zukommenden Eigenheit einer
angeborenen Körperbildung und Sinnesweiſe zuſammen. Die letztere webt in
dem Dunkel der natürlichen Grundſtimmung; dieſe oder das Temperament und
mit ihm das Naturell überhaupt tritt nun erſt in ſeiner ganzen Bedeutung für
die Aeſthetik hervor. Die vier Temperamente, welche man richtig unterſcheidet,
verwickeln ſich in jedem Einzelnen, während das Volkstemperament (§. 326)
die Unterlage bildet, zu einem unberechenbaren Ganzen, in welchem eines
derſelben hervorſticht.
1. Wir haben nun die Momente zu ſammeln, deren Concretion
der Charakter iſt. Am meiſten ſcheint uns einer erſchöpfenden Ent-
wicklung dieſes complicirten Begriffs Rötſcher durch ſ. Abh. über das
Weſen der dramat. Charaktergeſtaltung (Cyclus dramat. Charaktere oder
die Kunſt der dramat. Darſt. Thl. 2.) vorgearbeitet zu haben. Wir
unterſcheiden, von ſeiner Anordnung übrigens abweichend, zwei Reihen
von Momenten der Allgemeinheit und Beſonderheit, die ſich zur Spitze
der Individualität zuſammenfaſſen; zuerſt im gegenwärtigen §. die Reihe
der Momente auf der Naturſeite. Unter dieſen iſt außer Volk, Stamm
namentlich die Familie wichtig; man kennt die eingewurzelt vererbende
Körperbildung und ſeeliſche Richtung einzelner Familien. Selbſt in der
alten Tragödie iſt der wilde Sinn, der ſich in einzelnen Häuſern vererbt,
ein Hebel; engere Diſpoſition für gewiſſe Lebensſphären, ſchärfere
Eigenheit einzelner Familien iſt natürlich moderner: ein Punkt, wovon
an ſeinem Ort mehr. Alles nun, was durch Fortpflanzung in den
Einzelnen übergeht, faßt ſich in jedem zu unendlich neuer und eigener
Miſchung zuſammen. Er iſt nur ſich ſelbſt gleich. Dieß mußte in der
metaphyſiſchen Begründung ſchon ausgeſprochen werden, vergl. §. 31 ff.
In wem die Eigenheit ſo ſchwach iſt, daß man ſie kaum wahrnimmt,
der iſt kein äſthetiſcher, oder ein nur ſehr untergeordneter Stoff.
2. Die Temperamente zu zählen, zu ſchildern, zu begründen und zu
erklären, iſt die Aeſthetik nicht ſchuldig, ſie nimmt dieß aus der Anthro-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/205>, abgerufen am 22.02.2025.
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