Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.§. 327. 1 Nacht und wehrlos von Geburt muß sich der Mensch seine Nothdurft, 1. Daß der Mensch ein "Invalide seiner oberen Kräfte" ist (wie §. 327. 1 Nacht und wehrlos von Geburt muß ſich der Menſch ſeine Nothdurft, 1. Daß der Menſch ein „Invalide ſeiner oberen Kräfte“ iſt (wie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <pb facs="#f0194" n="182"/> <div n="6"> <head>§. 327.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">Nacht und wehrlos von Geburt muß ſich der Menſch ſeine Nothdurft,<lb/> ſeine Genüſſe erarbeiten und durch dieſe Reibung mit der Natur wickelt ſich<lb/> aus der Rohheit der Geiſt heraus, deſſen Erſcheinung jedoch nur ſo lange äſt-<lb/> hetiſch bleibt, als er nicht auf Koſten der ſinnlichen Lebendigkeit und Ein-<lb/> fachheit ſeiner Culturformen ſich ausbildet. Den Körper verhüllt, ſchützt,<lb/><note place="left">2</note>ſchmückt die <hi rendition="#g">Kleidung</hi> und bildet ſich nach der Beſchaffenheit des Wohnſitzes<lb/> und der dadurch bedingten Sinnesweiſe und Lebensart einer Volksnatur über-<lb/> haupt, aber auch unter der Leitung eines höheren, geiſtigen Inſtincts zu den<lb/> Formen verſchiedener Trachten aus. Die umgebende Natur wird thätig behandelt<lb/><note place="left">3</note>zunächſt durch <hi rendition="#g">Fiſcherei, Jagd, Viehzucht</hi>, mit welchen erſt ein unſtetes<lb/> Wanderleben verbunden iſt, durch den <hi rendition="#g">Landbau</hi>, der mit der feſten Anſiedlung<lb/> auch die geſellige Ordnung begründet, und durch die wichtigere Schule des<lb/><note place="left">4</note>Völkerverkehrs und der Bildung, <hi rendition="#g">Schifffahrt</hi> und <hi rendition="#g">Handel</hi>. Der <hi rendition="#g">Krieg</hi>,<lb/> urſprünglich roher Ausbruch der Naturkraft, fängt an zu einem edleren Aus-<lb/> druck der Unternehmungsluſt und Selbſterhaltung der Nationen zu werden.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Daß der Menſch ein „Invalide ſeiner oberen Kräfte“ iſt (wie<lb/><hi rendition="#g">Herder</hi> geiſtreich ſagt), geht die Aeſthetik mittelbar ebenſo an, wie alle<lb/> in die Cultur einſchlagenden Erörterungen. Zunächſt freilich im Sinne<lb/> des Häßlichen, das kaum ganz in das Komiſche aufgeht, wie die ganze<lb/> elende Hilfsbedürftigkeit und Unflätherei des Neugeborenen, dann alle die<lb/> dürftigen Lebensformen der wilden Völker. Die erſten Hauptformen,<lb/> wodurch der Menſch die äußere Natur und dadurch die innere Rohheit<lb/> überwindet, werden nun im Folgenden kurz genannt und dabei iſt freilich<lb/> die Vorausnahme nothwendig, daß ſie äſthetiſch allerdings erſt werden,<lb/> wenn ſie das herbeigeführt haben, was ſie vorbereiten, nämlich das<lb/> gebildete Geſammtleben, in welchem ſie als einzelne Zweige der Thätigkeit<lb/> fortdauern. Der Wilde, der <hi rendition="#g">blos</hi> Fiſcher, blos Jäger, der unſtete<lb/> Nomade, der blos Hirte iſt, gehört nicht in die Aeſthetik, auch Landbau<lb/> allein kann ihr nicht genügen und ein Volk, das faſt nur Handelsvolk iſt,<lb/> widert ſie an. Der §. ſtellt nun zuerſt das Geſetz auf, das von der<lb/> vorliegenden ſowie von allen weiteren Sphären des menſchlichen Lebens<lb/> gilt und nur eine Anwendung des allgemeinen Begriffs des Schönen iſt:<lb/><hi rendition="#g">geiſtloſe, rohe Natur iſt noch nicht, naturloſer Geiſt nicht<lb/> mehr äſthetiſch</hi>. Das vorliegende Gebiet der Culturformen können<lb/> wir im Allgemeinen das der Zweckmäßigkeit nennen. Die befriedigte<lb/> Zweckmäßigkeit führt aber zum Ueberfluß des Angenehmen in unmittel-<lb/> barem Genuß und Schmuck, und auch darauf dehnt unſer Gebiet ſich aus.<lb/> Geiſtloſe Natur nun tritt in zwei Fällen ein. Der eine findet Statt, wenn die<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [182/0194]
§. 327.
Nacht und wehrlos von Geburt muß ſich der Menſch ſeine Nothdurft,
ſeine Genüſſe erarbeiten und durch dieſe Reibung mit der Natur wickelt ſich
aus der Rohheit der Geiſt heraus, deſſen Erſcheinung jedoch nur ſo lange äſt-
hetiſch bleibt, als er nicht auf Koſten der ſinnlichen Lebendigkeit und Ein-
fachheit ſeiner Culturformen ſich ausbildet. Den Körper verhüllt, ſchützt,
ſchmückt die Kleidung und bildet ſich nach der Beſchaffenheit des Wohnſitzes
und der dadurch bedingten Sinnesweiſe und Lebensart einer Volksnatur über-
haupt, aber auch unter der Leitung eines höheren, geiſtigen Inſtincts zu den
Formen verſchiedener Trachten aus. Die umgebende Natur wird thätig behandelt
zunächſt durch Fiſcherei, Jagd, Viehzucht, mit welchen erſt ein unſtetes
Wanderleben verbunden iſt, durch den Landbau, der mit der feſten Anſiedlung
auch die geſellige Ordnung begründet, und durch die wichtigere Schule des
Völkerverkehrs und der Bildung, Schifffahrt und Handel. Der Krieg,
urſprünglich roher Ausbruch der Naturkraft, fängt an zu einem edleren Aus-
druck der Unternehmungsluſt und Selbſterhaltung der Nationen zu werden.
1. Daß der Menſch ein „Invalide ſeiner oberen Kräfte“ iſt (wie
Herder geiſtreich ſagt), geht die Aeſthetik mittelbar ebenſo an, wie alle
in die Cultur einſchlagenden Erörterungen. Zunächſt freilich im Sinne
des Häßlichen, das kaum ganz in das Komiſche aufgeht, wie die ganze
elende Hilfsbedürftigkeit und Unflätherei des Neugeborenen, dann alle die
dürftigen Lebensformen der wilden Völker. Die erſten Hauptformen,
wodurch der Menſch die äußere Natur und dadurch die innere Rohheit
überwindet, werden nun im Folgenden kurz genannt und dabei iſt freilich
die Vorausnahme nothwendig, daß ſie äſthetiſch allerdings erſt werden,
wenn ſie das herbeigeführt haben, was ſie vorbereiten, nämlich das
gebildete Geſammtleben, in welchem ſie als einzelne Zweige der Thätigkeit
fortdauern. Der Wilde, der blos Fiſcher, blos Jäger, der unſtete
Nomade, der blos Hirte iſt, gehört nicht in die Aeſthetik, auch Landbau
allein kann ihr nicht genügen und ein Volk, das faſt nur Handelsvolk iſt,
widert ſie an. Der §. ſtellt nun zuerſt das Geſetz auf, das von der
vorliegenden ſowie von allen weiteren Sphären des menſchlichen Lebens
gilt und nur eine Anwendung des allgemeinen Begriffs des Schönen iſt:
geiſtloſe, rohe Natur iſt noch nicht, naturloſer Geiſt nicht
mehr äſthetiſch. Das vorliegende Gebiet der Culturformen können
wir im Allgemeinen das der Zweckmäßigkeit nennen. Die befriedigte
Zweckmäßigkeit führt aber zum Ueberfluß des Angenehmen in unmittel-
barem Genuß und Schmuck, und auch darauf dehnt unſer Gebiet ſich aus.
Geiſtloſe Natur nun tritt in zwei Fällen ein. Der eine findet Statt, wenn die
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