Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

dem schwarzen Apfel, dem wechselnden Lichtpunkte hervor. Dieß Auge
hat nicht die Waldfrische des Rehs, nicht die schneidende Schärfe des
Raubvogels, aber es ist beweglicher nach allen Seiten, auch nach vornen
und rückwärts, als das thierische, denn es dringt im Zorne hervor, sinkt
im Schmerze und jedem niederschlagenden Affecte zurück in seine Höhle;
es faßt den Gegenstand anders mit seinem Blicke, es ergreift ihn mit
dem Ausdrucke des Wissens um ihn und darum kann es durchbohren, wie
kein Thierblick; und so ist es nun überhaupt der aus der verarbeitetsten
Materie geformte Seelenspiegel, durch dessen Wasser man hinuntersieht in
unergründliche Geistestiefen. Bescheiden schmiegt sich die zierliche Muschel
des Ohrs mit jenem schmuckartigen Fleischtropfen, den kein Thier hat,
dem Läppchen, an die Schläfe; es hat nicht so weit zu hören wie der
thierische Löffel, es hat Anderes zu hören und zeigt selbst durch die sinnigen
Schlingungen seines äußeren Baues die Bestimmung, den absolut bedeu-
tungsvollen Ton, die Menschenstimme und Sprache zum innern Ver-
nehmen zu führen.

2. Die Farbe vereinigt auf diesem kleinen Runde ihren feinsten
Zauber. Auf dem matt durchsichtigen röthlichen Weiß, dem die durch-
schimmernden stärkern Adern mit den Schatten der Modellirung die
bläulichen, grünlichen, bräunlichen Töne geben, die nur auf der
gespannteren Haut der Stirne das ungetheiltere Helle walten lassen,
breitet sich das sanft verschwindende glanzlose Roth, die Gesundheitsblüthe
der Wangen, hebt sich die Zeichnung der Lippen durch ihren rothen Kirschen-
glanz ab. Neben dem schon erwähnten Augbraun und den Wimpern hebt
das magisch hervorleuchtende Ganze des Angesichts die dunklere Umbuschung
der Haupthaare und des männlichen Bartes.

§. 319.

Was diese Gestalt in Ruhe und Bewegung ausspricht, ist die reiche Welt
des Geistes zunächst als Seele, d. h. in der Form der Unmittelbarkeit, also
die gesammte theoretische Thätigkeit, soweit ihre abstracten Verrichtungen erst
als Möglichkeit in der lebendigen Frische des Anschauens sich kund geben, der
praktische Geist als natürlicher Wille im Umfang seiner Triebe, Neigungen,
Leidenschaften, das Gefühl als der Schooß, von dem sie alle ausgehen, als der
innere Wiederklang, der alle begleitet, als der Grund, in den sie alle zurück-
sinken. Jede dieser Formen ist, mit Vorbehalt ihres verschiedenen, durch den
jeweiligen Zusammenhang bestimmten Werthes, ästhetisch.

Es kommt zunächst nur darauf an, den ganzen Menschen als Leib-
und Seelenwesen aufzustellen und so denn auch das innere Gebiet, zunächst

dem ſchwarzen Apfel, dem wechſelnden Lichtpunkte hervor. Dieß Auge
hat nicht die Waldfriſche des Rehs, nicht die ſchneidende Schärfe des
Raubvogels, aber es iſt beweglicher nach allen Seiten, auch nach vornen
und rückwärts, als das thieriſche, denn es dringt im Zorne hervor, ſinkt
im Schmerze und jedem niederſchlagenden Affecte zurück in ſeine Höhle;
es faßt den Gegenſtand anders mit ſeinem Blicke, es ergreift ihn mit
dem Ausdrucke des Wiſſens um ihn und darum kann es durchbohren, wie
kein Thierblick; und ſo iſt es nun überhaupt der aus der verarbeitetſten
Materie geformte Seelenſpiegel, durch deſſen Waſſer man hinunterſieht in
unergründliche Geiſtestiefen. Beſcheiden ſchmiegt ſich die zierliche Muſchel
des Ohrs mit jenem ſchmuckartigen Fleiſchtropfen, den kein Thier hat,
dem Läppchen, an die Schläfe; es hat nicht ſo weit zu hören wie der
thieriſche Löffel, es hat Anderes zu hören und zeigt ſelbſt durch die ſinnigen
Schlingungen ſeines äußeren Baues die Beſtimmung, den abſolut bedeu-
tungsvollen Ton, die Menſchenſtimme und Sprache zum innern Ver-
nehmen zu führen.

2. Die Farbe vereinigt auf dieſem kleinen Runde ihren feinſten
Zauber. Auf dem matt durchſichtigen röthlichen Weiß, dem die durch-
ſchimmernden ſtärkern Adern mit den Schatten der Modellirung die
bläulichen, grünlichen, bräunlichen Töne geben, die nur auf der
geſpannteren Haut der Stirne das ungetheiltere Helle walten laſſen,
breitet ſich das ſanft verſchwindende glanzloſe Roth, die Geſundheitsblüthe
der Wangen, hebt ſich die Zeichnung der Lippen durch ihren rothen Kirſchen-
glanz ab. Neben dem ſchon erwähnten Augbraun und den Wimpern hebt
das magiſch hervorleuchtende Ganze des Angeſichts die dunklere Umbuſchung
der Haupthaare und des männlichen Bartes.

§. 319.

Was dieſe Geſtalt in Ruhe und Bewegung ausſpricht, iſt die reiche Welt
des Geiſtes zunächſt als Seele, d. h. in der Form der Unmittelbarkeit, alſo
die geſammte theoretiſche Thätigkeit, ſoweit ihre abſtracten Verrichtungen erſt
als Möglichkeit in der lebendigen Friſche des Anſchauens ſich kund geben, der
praktiſche Geiſt als natürlicher Wille im Umfang ſeiner Triebe, Neigungen,
Leidenſchaften, das Gefühl als der Schooß, von dem ſie alle ausgehen, als der
innere Wiederklang, der alle begleitet, als der Grund, in den ſie alle zurück-
ſinken. Jede dieſer Formen iſt, mit Vorbehalt ihres verſchiedenen, durch den
jeweiligen Zuſammenhang beſtimmten Werthes, äſthetiſch.

Es kommt zunächſt nur darauf an, den ganzen Menſchen als Leib-
und Seelenweſen aufzuſtellen und ſo denn auch das innere Gebiet, zunächſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p>
                    <pb facs="#f0176" n="164"/> <hi rendition="#et">dem &#x017F;chwarzen Apfel, dem wech&#x017F;elnden Lichtpunkte hervor. Dieß Auge<lb/>
hat nicht die Waldfri&#x017F;che des Rehs, nicht die &#x017F;chneidende Schärfe des<lb/>
Raubvogels, aber es i&#x017F;t beweglicher nach allen Seiten, auch nach vornen<lb/>
und rückwärts, als das thieri&#x017F;che, denn es dringt im Zorne hervor, &#x017F;inkt<lb/>
im Schmerze und jedem nieder&#x017F;chlagenden Affecte zurück in &#x017F;eine Höhle;<lb/>
es faßt den Gegen&#x017F;tand anders mit &#x017F;einem Blicke, es ergreift ihn mit<lb/>
dem Ausdrucke des Wi&#x017F;&#x017F;ens um ihn und darum kann es durchbohren, wie<lb/>
kein Thierblick; und &#x017F;o i&#x017F;t es nun überhaupt der aus der verarbeitet&#x017F;ten<lb/>
Materie geformte Seelen&#x017F;piegel, durch de&#x017F;&#x017F;en Wa&#x017F;&#x017F;er man hinunter&#x017F;ieht in<lb/>
unergründliche Gei&#x017F;testiefen. Be&#x017F;cheiden &#x017F;chmiegt &#x017F;ich die zierliche Mu&#x017F;chel<lb/>
des Ohrs mit jenem &#x017F;chmuckartigen Flei&#x017F;chtropfen, den kein Thier hat,<lb/>
dem Läppchen, an die Schläfe; es hat nicht &#x017F;o weit zu hören wie der<lb/>
thieri&#x017F;che Löffel, es hat Anderes zu hören und zeigt &#x017F;elb&#x017F;t durch die &#x017F;innigen<lb/>
Schlingungen &#x017F;eines äußeren Baues die Be&#x017F;timmung, den ab&#x017F;olut bedeu-<lb/>
tungsvollen Ton, die Men&#x017F;chen&#x017F;timme und Sprache zum innern Ver-<lb/>
nehmen zu führen.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">2. Die Farbe vereinigt auf die&#x017F;em kleinen Runde ihren fein&#x017F;ten<lb/>
Zauber. Auf dem matt durch&#x017F;ichtigen röthlichen Weiß, dem die durch-<lb/>
&#x017F;chimmernden &#x017F;tärkern Adern mit den Schatten der Modellirung die<lb/>
bläulichen, grünlichen, bräunlichen Töne geben, die nur auf der<lb/>
ge&#x017F;pannteren Haut der Stirne das ungetheiltere Helle walten la&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
breitet &#x017F;ich das &#x017F;anft ver&#x017F;chwindende glanzlo&#x017F;e Roth, die Ge&#x017F;undheitsblüthe<lb/>
der Wangen, hebt &#x017F;ich die Zeichnung der Lippen durch ihren rothen Kir&#x017F;chen-<lb/>
glanz ab. Neben dem &#x017F;chon erwähnten Augbraun und den Wimpern hebt<lb/>
das magi&#x017F;ch hervorleuchtende Ganze des Ange&#x017F;ichts die dunklere Umbu&#x017F;chung<lb/>
der Haupthaare und des männlichen Bartes.</hi> </p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 319.</head><lb/>
                  <p> <hi rendition="#fr">Was die&#x017F;e Ge&#x017F;talt in Ruhe und Bewegung aus&#x017F;pricht, i&#x017F;t die reiche Welt<lb/>
des Gei&#x017F;tes zunäch&#x017F;t als Seele, d. h. in der Form der Unmittelbarkeit, al&#x017F;o<lb/>
die ge&#x017F;ammte theoreti&#x017F;che Thätigkeit, &#x017F;oweit ihre ab&#x017F;tracten Verrichtungen er&#x017F;t<lb/>
als Möglichkeit in der lebendigen Fri&#x017F;che des An&#x017F;chauens &#x017F;ich kund geben, der<lb/>
prakti&#x017F;che Gei&#x017F;t als natürlicher Wille im Umfang &#x017F;einer Triebe, Neigungen,<lb/>
Leiden&#x017F;chaften, das Gefühl als der Schooß, von dem &#x017F;ie alle ausgehen, als der<lb/>
innere Wiederklang, der alle begleitet, als der Grund, in den &#x017F;ie alle zurück-<lb/>
&#x017F;inken. Jede die&#x017F;er Formen i&#x017F;t, mit Vorbehalt ihres ver&#x017F;chiedenen, durch den<lb/>
jeweiligen Zu&#x017F;ammenhang be&#x017F;timmten Werthes, ä&#x017F;theti&#x017F;ch.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Es kommt zunäch&#x017F;t nur darauf an, den ganzen Men&#x017F;chen als Leib-<lb/>
und Seelenwe&#x017F;en aufzu&#x017F;tellen und &#x017F;o denn auch das innere Gebiet, zunäch&#x017F;t<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[164/0176] dem ſchwarzen Apfel, dem wechſelnden Lichtpunkte hervor. Dieß Auge hat nicht die Waldfriſche des Rehs, nicht die ſchneidende Schärfe des Raubvogels, aber es iſt beweglicher nach allen Seiten, auch nach vornen und rückwärts, als das thieriſche, denn es dringt im Zorne hervor, ſinkt im Schmerze und jedem niederſchlagenden Affecte zurück in ſeine Höhle; es faßt den Gegenſtand anders mit ſeinem Blicke, es ergreift ihn mit dem Ausdrucke des Wiſſens um ihn und darum kann es durchbohren, wie kein Thierblick; und ſo iſt es nun überhaupt der aus der verarbeitetſten Materie geformte Seelenſpiegel, durch deſſen Waſſer man hinunterſieht in unergründliche Geiſtestiefen. Beſcheiden ſchmiegt ſich die zierliche Muſchel des Ohrs mit jenem ſchmuckartigen Fleiſchtropfen, den kein Thier hat, dem Läppchen, an die Schläfe; es hat nicht ſo weit zu hören wie der thieriſche Löffel, es hat Anderes zu hören und zeigt ſelbſt durch die ſinnigen Schlingungen ſeines äußeren Baues die Beſtimmung, den abſolut bedeu- tungsvollen Ton, die Menſchenſtimme und Sprache zum innern Ver- nehmen zu führen. 2. Die Farbe vereinigt auf dieſem kleinen Runde ihren feinſten Zauber. Auf dem matt durchſichtigen röthlichen Weiß, dem die durch- ſchimmernden ſtärkern Adern mit den Schatten der Modellirung die bläulichen, grünlichen, bräunlichen Töne geben, die nur auf der geſpannteren Haut der Stirne das ungetheiltere Helle walten laſſen, breitet ſich das ſanft verſchwindende glanzloſe Roth, die Geſundheitsblüthe der Wangen, hebt ſich die Zeichnung der Lippen durch ihren rothen Kirſchen- glanz ab. Neben dem ſchon erwähnten Augbraun und den Wimpern hebt das magiſch hervorleuchtende Ganze des Angeſichts die dunklere Umbuſchung der Haupthaare und des männlichen Bartes. §. 319. Was dieſe Geſtalt in Ruhe und Bewegung ausſpricht, iſt die reiche Welt des Geiſtes zunächſt als Seele, d. h. in der Form der Unmittelbarkeit, alſo die geſammte theoretiſche Thätigkeit, ſoweit ihre abſtracten Verrichtungen erſt als Möglichkeit in der lebendigen Friſche des Anſchauens ſich kund geben, der praktiſche Geiſt als natürlicher Wille im Umfang ſeiner Triebe, Neigungen, Leidenſchaften, das Gefühl als der Schooß, von dem ſie alle ausgehen, als der innere Wiederklang, der alle begleitet, als der Grund, in den ſie alle zurück- ſinken. Jede dieſer Formen iſt, mit Vorbehalt ihres verſchiedenen, durch den jeweiligen Zuſammenhang beſtimmten Werthes, äſthetiſch. Es kommt zunächſt nur darauf an, den ganzen Menſchen als Leib- und Seelenweſen aufzuſtellen und ſo denn auch das innere Gebiet, zunächſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/176
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/176>, abgerufen am 21.12.2024.