das Umgebende nicht beachtet wird, denn das Thier ist bereits sich selbst vernehmendes Naturcentrum, also eine Welt für sich. Vor der Hand ist dieß zuzugeben; die Gründe, aus denen sich diese selbständige ästhetische Geltung des Thierreichs sehr beschränkt, sind erst da zu entwickeln, wo die Mängel desselben in volles Licht treten und wo sich daher zeigen wird, daß entweder dem Thiere landschaftliche Natur oder das Thier dem Menschen beigeordnet erscheinen muß, wozu dann wieder landschaftliche Umgebung treten kann. Hier zunächst wird aber jener Geltung des Thiers dadurch nichts verschlagen, daß es mit der niedrigeren umgebenden Natur zusammengefaßt wird, denn es ist in dieser Verbindung ihr Herr, und erst nachher soll sich zeigen, daß über dem Herrn ein höherer ist, dessen Würde die des ersten so zurückdrängt, daß dieser nur in seltenen Fällen für sich allein Subject der Schönheit sein kann. Davon kann vorläufig so viel hervorgehoben werden, daß das Thier ungleich anders als der Mensch an sein Natur-Element gebunden ist. Der gefangene Mensch kann, erhaben über seine Leiden, heiter erscheinen, das Thier, aus seiner Sphäre gerissen und eingezwängt, ist ein peinlicher Anblick, aller ästhetische Genuß geht im Mitleiden zu Grunde. Die Lerche gehört in die Lüfte, die Wachtel in's Gras, die Nachtigall in's Gebüsch, nur hier findet auch ihr Gesang das Echo, das er fordert.
§. 283.
Das Thier ist von der Erde gelöst und hat Selbstbewegung. Außer der elementarischen Nahrung, die es unfreiwillig und ununterbrochen wie die Pflanze in sich aufnimmt, sucht es Trank und organischen Stoff als Speise, bewegt sich zu ihm, nimmt ihn durch einen Act in sich auf und hat sodann freie Zeit für andere Thätigkeiten. Die Fortpflanzung ist nicht bloßer, unvermittelt noth- wendiger Gipfel des Wachsthums, sondern bei getrennten Geschlechtern muß das Thier des einen Geschlechts das des andern erst aufsuchen, um ebenfalls durch einen bestimmten Act die Zeugung zu vollziehen. Außer diesen beiden Pro- zessen ist aber das Thier dazu gebildet, die unorganische und vegetabilische Natur, zugleich aber auch seines Gleichen das ihm ohnedieß theilweise zur Nahrung angewiesen ist, und den Menschen noch in anderer Form und eben- darum in absolut neuer Bedeutung sich zum Objecte zu machen: nämlich durch die Sinne. Für alle diese Zwecke ist es mit besonderen Werkzeugen aus- gerüstet.
Es kommt hier zuerst nur darauf an, die Grundzüge des thierischen Wesens ganz allgemein auszusprechen. Aesthetisch wird die Betrachtung alsbald wieder werden, wenn sich zeigt, wie dieselben in Erscheinung
das Umgebende nicht beachtet wird, denn das Thier iſt bereits ſich ſelbſt vernehmendes Naturcentrum, alſo eine Welt für ſich. Vor der Hand iſt dieß zuzugeben; die Gründe, aus denen ſich dieſe ſelbſtändige äſthetiſche Geltung des Thierreichs ſehr beſchränkt, ſind erſt da zu entwickeln, wo die Mängel deſſelben in volles Licht treten und wo ſich daher zeigen wird, daß entweder dem Thiere landſchaftliche Natur oder das Thier dem Menſchen beigeordnet erſcheinen muß, wozu dann wieder landſchaftliche Umgebung treten kann. Hier zunächſt wird aber jener Geltung des Thiers dadurch nichts verſchlagen, daß es mit der niedrigeren umgebenden Natur zuſammengefaßt wird, denn es iſt in dieſer Verbindung ihr Herr, und erſt nachher ſoll ſich zeigen, daß über dem Herrn ein höherer iſt, deſſen Würde die des erſten ſo zurückdrängt, daß dieſer nur in ſeltenen Fällen für ſich allein Subject der Schönheit ſein kann. Davon kann vorläufig ſo viel hervorgehoben werden, daß das Thier ungleich anders als der Menſch an ſein Natur-Element gebunden iſt. Der gefangene Menſch kann, erhaben über ſeine Leiden, heiter erſcheinen, das Thier, aus ſeiner Sphäre geriſſen und eingezwängt, iſt ein peinlicher Anblick, aller äſthetiſche Genuß geht im Mitleiden zu Grunde. Die Lerche gehört in die Lüfte, die Wachtel in’s Gras, die Nachtigall in’s Gebüſch, nur hier findet auch ihr Geſang das Echo, das er fordert.
§. 283.
Das Thier iſt von der Erde gelöst und hat Selbſtbewegung. Außer der elementariſchen Nahrung, die es unfreiwillig und ununterbrochen wie die Pflanze in ſich aufnimmt, ſucht es Trank und organiſchen Stoff als Speiſe, bewegt ſich zu ihm, nimmt ihn durch einen Act in ſich auf und hat ſodann freie Zeit für andere Thätigkeiten. Die Fortpflanzung iſt nicht bloßer, unvermittelt noth- wendiger Gipfel des Wachsthums, ſondern bei getrennten Geſchlechtern muß das Thier des einen Geſchlechts das des andern erſt aufſuchen, um ebenfalls durch einen beſtimmten Act die Zeugung zu vollziehen. Außer dieſen beiden Pro- zeſſen iſt aber das Thier dazu gebildet, die unorganiſche und vegetabiliſche Natur, zugleich aber auch ſeines Gleichen das ihm ohnedieß theilweiſe zur Nahrung angewieſen iſt, und den Menſchen noch in anderer Form und eben- darum in abſolut neuer Bedeutung ſich zum Objecte zu machen: nämlich durch die Sinne. Für alle dieſe Zwecke iſt es mit beſonderen Werkzeugen aus- gerüſtet.
Es kommt hier zuerſt nur darauf an, die Grundzüge des thieriſchen Weſens ganz allgemein auszuſprechen. Aeſthetiſch wird die Betrachtung alsbald wieder werden, wenn ſich zeigt, wie dieſelben in Erſcheinung
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das Umgebende nicht beachtet wird, denn das Thier iſt bereits ſich ſelbſt
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dieß zuzugeben; die Gründe, aus denen ſich dieſe ſelbſtändige äſthetiſche
Geltung des Thierreichs ſehr beſchränkt, ſind erſt da zu entwickeln, wo
die Mängel deſſelben in volles Licht treten und wo ſich daher zeigen wird,
daß entweder dem Thiere landſchaftliche Natur oder das Thier dem
Menſchen beigeordnet erſcheinen muß, wozu dann wieder landſchaftliche
Umgebung treten kann. Hier zunächſt wird aber jener Geltung des
Thiers dadurch nichts verſchlagen, daß es mit der niedrigeren umgebenden
Natur zuſammengefaßt wird, denn es iſt in dieſer Verbindung ihr Herr,
und erſt nachher ſoll ſich zeigen, daß über dem Herrn ein höherer iſt,
deſſen Würde die des erſten ſo zurückdrängt, daß dieſer nur in ſeltenen
Fällen für ſich allein Subject der Schönheit ſein kann. Davon kann
vorläufig ſo viel hervorgehoben werden, daß das Thier ungleich anders
als der Menſch an ſein Natur-Element gebunden iſt. Der gefangene
Menſch kann, erhaben über ſeine Leiden, heiter erſcheinen, das Thier,
aus ſeiner Sphäre geriſſen und eingezwängt, iſt ein peinlicher Anblick,
aller äſthetiſche Genuß geht im Mitleiden zu Grunde. Die Lerche gehört
in die Lüfte, die Wachtel in’s Gras, die Nachtigall in’s Gebüſch, nur
hier findet auch ihr Geſang das Echo, das er fordert.
§. 283.
Das Thier iſt von der Erde gelöst und hat Selbſtbewegung. Außer der
elementariſchen Nahrung, die es unfreiwillig und ununterbrochen wie die Pflanze
in ſich aufnimmt, ſucht es Trank und organiſchen Stoff als Speiſe, bewegt ſich
zu ihm, nimmt ihn durch einen Act in ſich auf und hat ſodann freie Zeit für
andere Thätigkeiten. Die Fortpflanzung iſt nicht bloßer, unvermittelt noth-
wendiger Gipfel des Wachsthums, ſondern bei getrennten Geſchlechtern muß das
Thier des einen Geſchlechts das des andern erſt aufſuchen, um ebenfalls durch
einen beſtimmten Act die Zeugung zu vollziehen. Außer dieſen beiden Pro-
zeſſen iſt aber das Thier dazu gebildet, die unorganiſche und vegetabiliſche
Natur, zugleich aber auch ſeines Gleichen das ihm ohnedieß theilweiſe zur
Nahrung angewieſen iſt, und den Menſchen noch in anderer Form und eben-
darum in abſolut neuer Bedeutung ſich zum Objecte zu machen: nämlich durch
die Sinne. Für alle dieſe Zwecke iſt es mit beſonderen Werkzeugen aus-
gerüſtet.
Es kommt hier zuerſt nur darauf an, die Grundzüge des thieriſchen
Weſens ganz allgemein auszuſprechen. Aeſthetiſch wird die Betrachtung
alsbald wieder werden, wenn ſich zeigt, wie dieſelben in Erſcheinung
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/114>, abgerufen am 22.02.2025.
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