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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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§. 279.

Ein zweiter Typus bewahrt ebenfalls Gemessenheit, Schärfe, ernste Haltung,
die aber in bewegteren, weicheren, zufälligeren Formen als freier Schwung
herrscht; er entläßt und bindet das Gemüth in Einem, verschmilzt Anmuth und
Würde in edlem, gesättigtem Gleichgewichte.

Man erkennt sogleich den Pflanzentypus des wärmeren Theils der
gemäßigten Zone. Dürfen wir uns den schon genannten Vorgriff erlauben,
so nennen wir ihn den plastischen. Es ist der compacte, silhouettenartige,
in sich gesättigte Charakter der Pflanzenwelt unserer südlichen europäischen
Länder, Italiens und Griechenlands vorzüglich, der durch den Schwung
seiner Formen das Gemüth zur Freiheit entläßt, aber nur bis zu der
Grenze, wo das Sentimentale beginnt; dieß weist er durch seine ruhige
Würde, seine gemessene Haltung, seinen ernsten Anstand, seine scharfe
Deutlichkeit zurück. Seine Pflanzenwelt ist im Allgemeinen von mäßigerer
Größe, doch erreichen viele Bäume sehr bedeutende Höhe und Breite.
Wir erwähnen als erstes Beispiel des vorliegenden Typus die reich ver-
ästeten größeren Laubholz-Arten, welche ein stark in Saft schießendes,
wässerigtes, in seinem Gewebe wenig compactes, üppig wucherndes
Gepräge zeigen. Eine wohlgegliederte Gruppirung der Krone in einzelne
Baumschlag-Massen ist dadurch keineswegs ausgeschlossen, am wenigsten
entwickelt sich diese in der Kastanie, welche, wo sie nicht zu bedeutender
Größe fortgewachsen ist, sich in fast regelmäßiger, wenig getheilter Kugel-
form ziemlich steif darstellt. Was aber die üppige Fülle aller dieser Formen
zu einer gemesseneren, dem Krystallartigen wieder näher stehenden Strenge
zurückführt, ist die Zeichnung der Blätter: gelappt bei der (gemeinen)
Feige (und zwar bei dieser in einer äußerst wohlgefälligen Form), der
Platane, dem Ahorn, gefingert bei der Kastanie, gefiedert mit langen
ovalen Blättchen bei dem Nußbaume, mit lanzettförmigen bei der Esche,
mit feineren ovalen bei der Acazie, die sich durch ihre mimosen-artige
Zartheit unter den gefiederten Laub-Arten besonders reizend darstellt. Der
dünnere, weniger solide, wässerigte Charakter ist bei mehreren der hieher-
gehörigen Bäume auch in der graulichen, grünlichen, überhaupt hellen
Farbe der Rinde ausgedrückt, wie z. B. der Platane. Die näheren
Unterschiede der im Allgemeinen warmen Farbe des Grüns dieser Bäume,
der Richtung, Form der Aeste u. s. w. können nicht verfolgt werden. --
Eine andere Gruppe dagegen zeigt bei mäßigerer Größe schlanke oder
bequem rundlich ausgebreitete Form, meist compactes Zusammenhalten der
Kronen-Masse, lederartige, glänzende, schwärzlich oder graulichgrüne Farbe
der Blätter und dadurch scharfe Abzeichnung vom tiefblauen Himmel,

§. 279.

Ein zweiter Typus bewahrt ebenfalls Gemeſſenheit, Schärfe, ernſte Haltung,
die aber in bewegteren, weicheren, zufälligeren Formen als freier Schwung
herrſcht; er entläßt und bindet das Gemüth in Einem, verſchmilzt Anmuth und
Würde in edlem, geſättigtem Gleichgewichte.

Man erkennt ſogleich den Pflanzentypus des wärmeren Theils der
gemäßigten Zone. Dürfen wir uns den ſchon genannten Vorgriff erlauben,
ſo nennen wir ihn den plaſtiſchen. Es iſt der compacte, ſilhouettenartige,
in ſich geſättigte Charakter der Pflanzenwelt unſerer ſüdlichen europäiſchen
Länder, Italiens und Griechenlands vorzüglich, der durch den Schwung
ſeiner Formen das Gemüth zur Freiheit entläßt, aber nur bis zu der
Grenze, wo das Sentimentale beginnt; dieß weist er durch ſeine ruhige
Würde, ſeine gemeſſene Haltung, ſeinen ernſten Anſtand, ſeine ſcharfe
Deutlichkeit zurück. Seine Pflanzenwelt iſt im Allgemeinen von mäßigerer
Größe, doch erreichen viele Bäume ſehr bedeutende Höhe und Breite.
Wir erwähnen als erſtes Beiſpiel des vorliegenden Typus die reich ver-
äſteten größeren Laubholz-Arten, welche ein ſtark in Saft ſchießendes,
wäſſerigtes, in ſeinem Gewebe wenig compactes, üppig wucherndes
Gepräge zeigen. Eine wohlgegliederte Gruppirung der Krone in einzelne
Baumſchlag-Maſſen iſt dadurch keineswegs ausgeſchloſſen, am wenigſten
entwickelt ſich dieſe in der Kaſtanie, welche, wo ſie nicht zu bedeutender
Größe fortgewachſen iſt, ſich in faſt regelmäßiger, wenig getheilter Kugel-
form ziemlich ſteif darſtellt. Was aber die üppige Fülle aller dieſer Formen
zu einer gemeſſeneren, dem Kryſtallartigen wieder näher ſtehenden Strenge
zurückführt, iſt die Zeichnung der Blätter: gelappt bei der (gemeinen)
Feige (und zwar bei dieſer in einer äußerſt wohlgefälligen Form), der
Platane, dem Ahorn, gefingert bei der Kaſtanie, gefiedert mit langen
ovalen Blättchen bei dem Nußbaume, mit lanzettförmigen bei der Eſche,
mit feineren ovalen bei der Acazie, die ſich durch ihre mimoſen-artige
Zartheit unter den gefiederten Laub-Arten beſonders reizend darſtellt. Der
dünnere, weniger ſolide, wäſſerigte Charakter iſt bei mehreren der hieher-
gehörigen Bäume auch in der graulichen, grünlichen, überhaupt hellen
Farbe der Rinde ausgedrückt, wie z. B. der Platane. Die näheren
Unterſchiede der im Allgemeinen warmen Farbe des Grüns dieſer Bäume,
der Richtung, Form der Aeſte u. ſ. w. können nicht verfolgt werden. —
Eine andere Gruppe dagegen zeigt bei mäßigerer Größe ſchlanke oder
bequem rundlich ausgebreitete Form, meiſt compactes Zuſammenhalten der
Kronen-Maſſe, lederartige, glänzende, ſchwärzlich oder graulichgrüne Farbe
der Blätter und dadurch ſcharfe Abzeichnung vom tiefblauen Himmel,

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[95/0107] §. 279. Ein zweiter Typus bewahrt ebenfalls Gemeſſenheit, Schärfe, ernſte Haltung, die aber in bewegteren, weicheren, zufälligeren Formen als freier Schwung herrſcht; er entläßt und bindet das Gemüth in Einem, verſchmilzt Anmuth und Würde in edlem, geſättigtem Gleichgewichte. Man erkennt ſogleich den Pflanzentypus des wärmeren Theils der gemäßigten Zone. Dürfen wir uns den ſchon genannten Vorgriff erlauben, ſo nennen wir ihn den plaſtiſchen. Es iſt der compacte, ſilhouettenartige, in ſich geſättigte Charakter der Pflanzenwelt unſerer ſüdlichen europäiſchen Länder, Italiens und Griechenlands vorzüglich, der durch den Schwung ſeiner Formen das Gemüth zur Freiheit entläßt, aber nur bis zu der Grenze, wo das Sentimentale beginnt; dieß weist er durch ſeine ruhige Würde, ſeine gemeſſene Haltung, ſeinen ernſten Anſtand, ſeine ſcharfe Deutlichkeit zurück. Seine Pflanzenwelt iſt im Allgemeinen von mäßigerer Größe, doch erreichen viele Bäume ſehr bedeutende Höhe und Breite. Wir erwähnen als erſtes Beiſpiel des vorliegenden Typus die reich ver- äſteten größeren Laubholz-Arten, welche ein ſtark in Saft ſchießendes, wäſſerigtes, in ſeinem Gewebe wenig compactes, üppig wucherndes Gepräge zeigen. Eine wohlgegliederte Gruppirung der Krone in einzelne Baumſchlag-Maſſen iſt dadurch keineswegs ausgeſchloſſen, am wenigſten entwickelt ſich dieſe in der Kaſtanie, welche, wo ſie nicht zu bedeutender Größe fortgewachſen iſt, ſich in faſt regelmäßiger, wenig getheilter Kugel- form ziemlich ſteif darſtellt. Was aber die üppige Fülle aller dieſer Formen zu einer gemeſſeneren, dem Kryſtallartigen wieder näher ſtehenden Strenge zurückführt, iſt die Zeichnung der Blätter: gelappt bei der (gemeinen) Feige (und zwar bei dieſer in einer äußerſt wohlgefälligen Form), der Platane, dem Ahorn, gefingert bei der Kaſtanie, gefiedert mit langen ovalen Blättchen bei dem Nußbaume, mit lanzettförmigen bei der Eſche, mit feineren ovalen bei der Acazie, die ſich durch ihre mimoſen-artige Zartheit unter den gefiederten Laub-Arten beſonders reizend darſtellt. Der dünnere, weniger ſolide, wäſſerigte Charakter iſt bei mehreren der hieher- gehörigen Bäume auch in der graulichen, grünlichen, überhaupt hellen Farbe der Rinde ausgedrückt, wie z. B. der Platane. Die näheren Unterſchiede der im Allgemeinen warmen Farbe des Grüns dieſer Bäume, der Richtung, Form der Aeſte u. ſ. w. können nicht verfolgt werden. — Eine andere Gruppe dagegen zeigt bei mäßigerer Größe ſchlanke oder bequem rundlich ausgebreitete Form, meiſt compactes Zuſammenhalten der Kronen-Maſſe, lederartige, glänzende, ſchwärzlich oder graulichgrüne Farbe der Blätter und dadurch ſcharfe Abzeichnung vom tiefblauen Himmel,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/107>, abgerufen am 30.12.2024.