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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Bäume, deren kräftige Aeste sich in ein Netz zierlicher Zweige vergittern,
so viel Reiz der Zeichnung, daß sie auch im winterlichen Zustande schön
heißen könnten, wenn nicht das Laub unentbehrlich wäre, um dem Baum
eine eigentliche Stimmung zu geben.

§. 276.

1

Ueberall nun trägt zum besonderen Ausdruck des Pflanzengebildes wesentlich
die Farbe bei. Die allgemeine Farbe des Pflanzenreiches ist das beruhigende,
die nie versiegende saftige Triebkraft des Lebens anzeigende Grün, das am
Baum seine ganze Wirkung namentlich im Gegensatze zu der braunen, grauen,
gelblichen, weißlichen Färbung des Stammes und der Aeste erreicht. Das
Grün selbst aber unterscheidet sich wieder durch mannigfaltige Mischungs-
verhältnisse des Blauen und Gelben, so wie durch Abstufungen seiner Tiefe und
2Helle, wodurch der Charakter der Stimmung sich vollendet. Eine neue und
prachtvolle Farbenwirkung erzeugt die Pflanze in der Blüthe, in welcher sie
zugleich die reichste symmetrische Bildung hervorbringt und den überall sie
begleitenden wohlthätigen Geruch zum feinsten Dufte steigert. Trotz dieser
Eigenschaften ist die Blume von geringerer ästhetischer Bedeutung, als die
Gliederung eines umfangreichen Pflanzengebildes im Ganzen. Gesättigter erscheint
bei denselben Eigenschaften, an die volle Zeugungskraft der Natur, aber auch
bereits zu sehr an bestimmte Zweckbeziehungen erinnert die Frucht.

1. "In optischer Hinsicht bildet das Grün den polarischen Gegensatz
des Rothen; an dem Pflanzenreiche deutet mithin schon die herrschende
Farbe auf den Geschlechtsgegensatz hin, welcher zwischen ihm und dem
Thierreiche bestehet, an dessen vollkommenen Formen überall das Roth
des Blutes verherrschen würde, wenn bei ihnen das innere Getriebe der
Säfte nicht durch die bergenden Decken des Felles überkleidet, sondern
ebenso offen dargelegt wäre als bei den Kräutern." (Die Gesch. der Natur
v. Schubert, B. 2. §. 36). Die menschliche Haut läßt überall das Roth
des Blutes durchschimmern. Dieser affectvollen Farbe gegenüber scheint
nun das Grün überall auszusprechen, daß hier, wie in der Farbe die
Differenz aufgehoben, so im ganzen Wesen noch kein subjectiver Bruch,
keine Empfindung und Leidenschaft, nur still und stumm fortgährendes Säfte-
Leben ist: da ist Erholung, Gefühl der Gesundheit, die Farbe selbst haucht
stille, labende Kühle. Diese allgemeine Stimmung wendet sich aber in
vielfacher Weise je nach der Art des Grüns. Einen Hauptgegensatz bildet
das schwärzlich gelbliche dunkle Grün des häufig lederartigen Baumschlags
wärmerer und heißer Zonen mit dem helleren, dünneren der nörd-
licheren Länder. Mehr Blau und Grau sieht trauriger aus, als mehr

Bäume, deren kräftige Aeſte ſich in ein Netz zierlicher Zweige vergittern,
ſo viel Reiz der Zeichnung, daß ſie auch im winterlichen Zuſtande ſchön
heißen könnten, wenn nicht das Laub unentbehrlich wäre, um dem Baum
eine eigentliche Stimmung zu geben.

§. 276.

1

Ueberall nun trägt zum beſonderen Ausdruck des Pflanzengebildes weſentlich
die Farbe bei. Die allgemeine Farbe des Pflanzenreiches iſt das beruhigende,
die nie verſiegende ſaftige Triebkraft des Lebens anzeigende Grün, das am
Baum ſeine ganze Wirkung namentlich im Gegenſatze zu der braunen, grauen,
gelblichen, weißlichen Färbung des Stammes und der Aeſte erreicht. Das
Grün ſelbſt aber unterſcheidet ſich wieder durch mannigfaltige Miſchungs-
verhältniſſe des Blauen und Gelben, ſo wie durch Abſtufungen ſeiner Tiefe und
2Helle, wodurch der Charakter der Stimmung ſich vollendet. Eine neue und
prachtvolle Farbenwirkung erzeugt die Pflanze in der Blüthe, in welcher ſie
zugleich die reichſte ſymmetriſche Bildung hervorbringt und den überall ſie
begleitenden wohlthätigen Geruch zum feinſten Dufte ſteigert. Trotz dieſer
Eigenſchaften iſt die Blume von geringerer äſthetiſcher Bedeutung, als die
Gliederung eines umfangreichen Pflanzengebildes im Ganzen. Geſättigter erſcheint
bei denſelben Eigenſchaften, an die volle Zeugungskraft der Natur, aber auch
bereits zu ſehr an beſtimmte Zweckbeziehungen erinnert die Frucht.

1. „In optiſcher Hinſicht bildet das Grün den polariſchen Gegenſatz
des Rothen; an dem Pflanzenreiche deutet mithin ſchon die herrſchende
Farbe auf den Geſchlechtsgegenſatz hin, welcher zwiſchen ihm und dem
Thierreiche beſtehet, an deſſen vollkommenen Formen überall das Roth
des Blutes verherrſchen würde, wenn bei ihnen das innere Getriebe der
Säfte nicht durch die bergenden Decken des Felles überkleidet, ſondern
ebenſo offen dargelegt wäre als bei den Kräutern.“ (Die Geſch. der Natur
v. Schubert, B. 2. §. 36). Die menſchliche Haut läßt überall das Roth
des Blutes durchſchimmern. Dieſer affectvollen Farbe gegenüber ſcheint
nun das Grün überall auszuſprechen, daß hier, wie in der Farbe die
Differenz aufgehoben, ſo im ganzen Weſen noch kein ſubjectiver Bruch,
keine Empfindung und Leidenſchaft, nur ſtill und ſtumm fortgährendes Säfte-
Leben iſt: da iſt Erholung, Gefühl der Geſundheit, die Farbe ſelbſt haucht
ſtille, labende Kühle. Dieſe allgemeine Stimmung wendet ſich aber in
vielfacher Weiſe je nach der Art des Grüns. Einen Hauptgegenſatz bildet
das ſchwärzlich gelbliche dunkle Grün des häufig lederartigen Baumſchlags
wärmerer und heißer Zonen mit dem helleren, dünneren der nörd-
licheren Länder. Mehr Blau und Grau ſieht trauriger aus, als mehr

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[88/0100] Bäume, deren kräftige Aeſte ſich in ein Netz zierlicher Zweige vergittern, ſo viel Reiz der Zeichnung, daß ſie auch im winterlichen Zuſtande ſchön heißen könnten, wenn nicht das Laub unentbehrlich wäre, um dem Baum eine eigentliche Stimmung zu geben. §. 276. Ueberall nun trägt zum beſonderen Ausdruck des Pflanzengebildes weſentlich die Farbe bei. Die allgemeine Farbe des Pflanzenreiches iſt das beruhigende, die nie verſiegende ſaftige Triebkraft des Lebens anzeigende Grün, das am Baum ſeine ganze Wirkung namentlich im Gegenſatze zu der braunen, grauen, gelblichen, weißlichen Färbung des Stammes und der Aeſte erreicht. Das Grün ſelbſt aber unterſcheidet ſich wieder durch mannigfaltige Miſchungs- verhältniſſe des Blauen und Gelben, ſo wie durch Abſtufungen ſeiner Tiefe und Helle, wodurch der Charakter der Stimmung ſich vollendet. Eine neue und prachtvolle Farbenwirkung erzeugt die Pflanze in der Blüthe, in welcher ſie zugleich die reichſte ſymmetriſche Bildung hervorbringt und den überall ſie begleitenden wohlthätigen Geruch zum feinſten Dufte ſteigert. Trotz dieſer Eigenſchaften iſt die Blume von geringerer äſthetiſcher Bedeutung, als die Gliederung eines umfangreichen Pflanzengebildes im Ganzen. Geſättigter erſcheint bei denſelben Eigenſchaften, an die volle Zeugungskraft der Natur, aber auch bereits zu ſehr an beſtimmte Zweckbeziehungen erinnert die Frucht. 1. „In optiſcher Hinſicht bildet das Grün den polariſchen Gegenſatz des Rothen; an dem Pflanzenreiche deutet mithin ſchon die herrſchende Farbe auf den Geſchlechtsgegenſatz hin, welcher zwiſchen ihm und dem Thierreiche beſtehet, an deſſen vollkommenen Formen überall das Roth des Blutes verherrſchen würde, wenn bei ihnen das innere Getriebe der Säfte nicht durch die bergenden Decken des Felles überkleidet, ſondern ebenſo offen dargelegt wäre als bei den Kräutern.“ (Die Geſch. der Natur v. Schubert, B. 2. §. 36). Die menſchliche Haut läßt überall das Roth des Blutes durchſchimmern. Dieſer affectvollen Farbe gegenüber ſcheint nun das Grün überall auszuſprechen, daß hier, wie in der Farbe die Differenz aufgehoben, ſo im ganzen Weſen noch kein ſubjectiver Bruch, keine Empfindung und Leidenſchaft, nur ſtill und ſtumm fortgährendes Säfte- Leben iſt: da iſt Erholung, Gefühl der Geſundheit, die Farbe ſelbſt haucht ſtille, labende Kühle. Dieſe allgemeine Stimmung wendet ſich aber in vielfacher Weiſe je nach der Art des Grüns. Einen Hauptgegenſatz bildet das ſchwärzlich gelbliche dunkle Grün des häufig lederartigen Baumſchlags wärmerer und heißer Zonen mit dem helleren, dünneren der nörd- licheren Länder. Mehr Blau und Grau ſieht trauriger aus, als mehr

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/100>, abgerufen am 21.11.2024.