Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

zunächst jedoch berührt er sich mit seinem Objecte sinnlich, man sucht auf
rein empirischem Wege auszufinden, wie das Object auf den Sinn sinnlich
wirke, und läßt den Reflex dieser ersten Berührung auf die geistige
innerliche Seite des Sinns mehr oder weniger gleichgiltig zur Seite
liegen. Ebenso geht man objectiv nicht hinter die formellen Eigenschaften,
durch die der Gegenstand den Sinn berührt, zurück, man ist von der
Idee als innerem Grunde der Form im Gegenstande so weit als möglich
entfernt, und so geschieht es, daß man ein äußeres Merkmal als das
Wesen der Sache fixirt. Doch haben auch diese Untersuchungen ihren
Werth, da die sinnliche Bestimmtheit des schönen Gegenstands zwar nie
das Ganze, aber doch wesentlich ist. Hutcheson: Enquiry into the
original of our ideas of beauty and vertue
1720 ist dieser Fixirung
äußerer Merkmale nicht unmittelbar anzuklagen; aber indem er die
Platonische Bestimmung des Schönen als der Einheit im Mannigfaltigen
empirisch darzuthun sucht, so verliert sie ihm die Bedeutung eines geistigen
Bandes, wird ihm zur "Einförmigkeit" und sofort zur Symmetrie im
engeren geometrischen Sinne; so hält er sie als krystallische Form fest,
ferner in den Reichen des Organischen namentlich in dem gewöhnlichen
ebengenannten Sinne eines Gegenüberstehens gleicher gedoppelter Glieder
und endlich als meßbare Proportion insbesondere in den Verhältnissen
des menschlichen Leibes. Er übersieht völlig, daß die Symmetrie und
Proportion in diesem geometrischen Sinne nur das Gerippe der Schönheit
ist, zwischen welchem die zufällige Linie frei hindurchspielt. Ebendaher
nun, weil ihm ganz der Begriff einer Durchdringung der Regel mit dem
Zufälligen der einzelnen Existenz fehlt, spricht er auch ganz unbefangen
von der Schönheit in mathematischen Figuren und in Lehrsätzen. Diese
sind schön, weil sie eine Menge von Wahrheiten in genauer Ueber-
einstimmung enthalten u. s. f.

Hogarth in seinem barocken, doch nicht uninteressanten Buche:
Analysis of beauty 1753 hat das Verdienst, über die mathematische
Fixirung insofern hinausgekommen zu seyn, als er das, was blos eine der
Grundlagen und blos theilweise conditio sine qua non der schönen
Form ist, in diesem blos relativen Sinne auch begriffen hat. Freilich
geht er dabei sehr verworren zu Werke, indem er die Begriffe der
Richtigkeit, der Mannigfaltigkeit, der Gleichförmigkeit (d. h. auch bei
ihm der Regelmäßigkeit oder Symmetrie im Sinne des geometrischen
Parallelismus), der Einfachheit "oder Deutlichkeit," ohne alle Ordnung,
ohne alle Untersuchung ihres inneren Zusammenhangs aufführt, dazwischen

zunächſt jedoch berührt er ſich mit ſeinem Objecte ſinnlich, man ſucht auf
rein empiriſchem Wege auszufinden, wie das Object auf den Sinn ſinnlich
wirke, und läßt den Reflex dieſer erſten Berührung auf die geiſtige
innerliche Seite des Sinns mehr oder weniger gleichgiltig zur Seite
liegen. Ebenſo geht man objectiv nicht hinter die formellen Eigenſchaften,
durch die der Gegenſtand den Sinn berührt, zurück, man iſt von der
Idee als innerem Grunde der Form im Gegenſtande ſo weit als möglich
entfernt, und ſo geſchieht es, daß man ein äußeres Merkmal als das
Weſen der Sache fixirt. Doch haben auch dieſe Unterſuchungen ihren
Werth, da die ſinnliche Beſtimmtheit des ſchönen Gegenſtands zwar nie
das Ganze, aber doch weſentlich iſt. Hutcheſon: Enquiry into the
original of our ideas of beauty and vertue
1720 iſt dieſer Fixirung
äußerer Merkmale nicht unmittelbar anzuklagen; aber indem er die
Platoniſche Beſtimmung des Schönen als der Einheit im Mannigfaltigen
empiriſch darzuthun ſucht, ſo verliert ſie ihm die Bedeutung eines geiſtigen
Bandes, wird ihm zur „Einförmigkeit“ und ſofort zur Symmetrie im
engeren geometriſchen Sinne; ſo hält er ſie als kryſtalliſche Form feſt,
ferner in den Reichen des Organiſchen namentlich in dem gewöhnlichen
ebengenannten Sinne eines Gegenüberſtehens gleicher gedoppelter Glieder
und endlich als meßbare Proportion insbeſondere in den Verhältniſſen
des menſchlichen Leibes. Er überſieht völlig, daß die Symmetrie und
Proportion in dieſem geometriſchen Sinne nur das Gerippe der Schönheit
iſt, zwiſchen welchem die zufällige Linie frei hindurchſpielt. Ebendaher
nun, weil ihm ganz der Begriff einer Durchdringung der Regel mit dem
Zufälligen der einzelnen Exiſtenz fehlt, ſpricht er auch ganz unbefangen
von der Schönheit in mathematiſchen Figuren und in Lehrſätzen. Dieſe
ſind ſchön, weil ſie eine Menge von Wahrheiten in genauer Ueber-
einſtimmung enthalten u. ſ. f.

Hogarth in ſeinem barocken, doch nicht unintereſſanten Buche:
Analysis of beauty 1753 hat das Verdienſt, über die mathematiſche
Fixirung inſofern hinausgekommen zu ſeyn, als er das, was blos eine der
Grundlagen und blos theilweiſe conditio sine qua non der ſchönen
Form iſt, in dieſem blos relativen Sinne auch begriffen hat. Freilich
geht er dabei ſehr verworren zu Werke, indem er die Begriffe der
Richtigkeit, der Mannigfaltigkeit, der Gleichförmigkeit (d. h. auch bei
ihm der Regelmäßigkeit oder Symmetrie im Sinne des geometriſchen
Paralleliſmus), der Einfachheit „oder Deutlichkeit,“ ohne alle Ordnung,
ohne alle Unterſuchung ihres inneren Zuſammenhangs aufführt, dazwiſchen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0118" n="104"/>
zunäch&#x017F;t jedoch berührt er &#x017F;ich mit &#x017F;einem Objecte &#x017F;innlich, man &#x017F;ucht auf<lb/>
rein empiri&#x017F;chem Wege auszufinden, wie das Object auf den Sinn &#x017F;innlich<lb/>
wirke, und läßt den Reflex die&#x017F;er er&#x017F;ten Berührung auf die gei&#x017F;tige<lb/>
innerliche Seite des Sinns mehr oder weniger gleichgiltig zur Seite<lb/>
liegen. Eben&#x017F;o geht man objectiv nicht hinter die formellen Eigen&#x017F;chaften,<lb/>
durch die der Gegen&#x017F;tand den Sinn berührt, zurück, man i&#x017F;t von der<lb/>
Idee als innerem Grunde der Form im Gegen&#x017F;tande &#x017F;o weit als möglich<lb/>
entfernt, und &#x017F;o ge&#x017F;chieht es, daß man ein äußeres Merkmal als das<lb/>
We&#x017F;en der Sache fixirt. Doch haben auch die&#x017F;e Unter&#x017F;uchungen ihren<lb/>
Werth, da die &#x017F;innliche Be&#x017F;timmtheit des &#x017F;chönen Gegen&#x017F;tands zwar nie<lb/>
das Ganze, aber doch we&#x017F;entlich i&#x017F;t. <hi rendition="#g">Hutche&#x017F;on</hi>: <hi rendition="#aq">Enquiry into the<lb/>
original of our ideas of beauty and vertue</hi> 1720 i&#x017F;t die&#x017F;er Fixirung<lb/>
äußerer Merkmale nicht unmittelbar anzuklagen; aber indem er die<lb/>
Platoni&#x017F;che Be&#x017F;timmung des Schönen als der Einheit im Mannigfaltigen<lb/>
empiri&#x017F;ch darzuthun &#x017F;ucht, &#x017F;o verliert &#x017F;ie ihm die Bedeutung eines gei&#x017F;tigen<lb/>
Bandes, wird ihm zur &#x201E;Einförmigkeit&#x201C; und &#x017F;ofort zur Symmetrie im<lb/>
engeren geometri&#x017F;chen Sinne; &#x017F;o hält er &#x017F;ie als kry&#x017F;talli&#x017F;che Form fe&#x017F;t,<lb/>
ferner in den Reichen des Organi&#x017F;chen namentlich in dem gewöhnlichen<lb/>
ebengenannten Sinne eines Gegenüber&#x017F;tehens gleicher gedoppelter Glieder<lb/>
und endlich als meßbare Proportion insbe&#x017F;ondere in den Verhältni&#x017F;&#x017F;en<lb/>
des men&#x017F;chlichen Leibes. Er über&#x017F;ieht völlig, daß die Symmetrie und<lb/>
Proportion in die&#x017F;em geometri&#x017F;chen Sinne nur das Gerippe der Schönheit<lb/>
i&#x017F;t, zwi&#x017F;chen welchem die zufällige Linie frei hindurch&#x017F;pielt. Ebendaher<lb/>
nun, weil ihm ganz der Begriff einer Durchdringung der Regel mit dem<lb/>
Zufälligen der einzelnen Exi&#x017F;tenz fehlt, &#x017F;pricht er auch ganz unbefangen<lb/>
von der Schönheit in mathemati&#x017F;chen Figuren und in Lehr&#x017F;ätzen. Die&#x017F;e<lb/>
&#x017F;ind &#x017F;chön, weil &#x017F;ie eine Menge von Wahrheiten in genauer Ueber-<lb/>
ein&#x017F;timmung enthalten u. &#x017F;. f.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et"><hi rendition="#g">Hogarth</hi> in &#x017F;einem barocken, doch nicht unintere&#x017F;&#x017F;anten Buche:<lb/><hi rendition="#aq">Analysis of beauty</hi> 1753 hat das Verdien&#x017F;t, über die mathemati&#x017F;che<lb/>
Fixirung in&#x017F;ofern hinausgekommen zu &#x017F;eyn, als er das, was blos eine der<lb/>
Grundlagen und blos theilwei&#x017F;e <hi rendition="#aq">conditio sine qua non</hi> der &#x017F;chönen<lb/>
Form i&#x017F;t, in die&#x017F;em blos relativen Sinne auch begriffen hat. Freilich<lb/>
geht er dabei &#x017F;ehr verworren zu Werke, indem er die Begriffe der<lb/>
Richtigkeit, der Mannigfaltigkeit, der Gleichförmigkeit (d. h. auch bei<lb/>
ihm der Regelmäßigkeit oder Symmetrie im Sinne des geometri&#x017F;chen<lb/>
Paralleli&#x017F;mus), der Einfachheit &#x201E;oder Deutlichkeit,&#x201C; ohne alle Ordnung,<lb/>
ohne alle Unter&#x017F;uchung ihres inneren Zu&#x017F;ammenhangs aufführt, dazwi&#x017F;chen<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0118] zunächſt jedoch berührt er ſich mit ſeinem Objecte ſinnlich, man ſucht auf rein empiriſchem Wege auszufinden, wie das Object auf den Sinn ſinnlich wirke, und läßt den Reflex dieſer erſten Berührung auf die geiſtige innerliche Seite des Sinns mehr oder weniger gleichgiltig zur Seite liegen. Ebenſo geht man objectiv nicht hinter die formellen Eigenſchaften, durch die der Gegenſtand den Sinn berührt, zurück, man iſt von der Idee als innerem Grunde der Form im Gegenſtande ſo weit als möglich entfernt, und ſo geſchieht es, daß man ein äußeres Merkmal als das Weſen der Sache fixirt. Doch haben auch dieſe Unterſuchungen ihren Werth, da die ſinnliche Beſtimmtheit des ſchönen Gegenſtands zwar nie das Ganze, aber doch weſentlich iſt. Hutcheſon: Enquiry into the original of our ideas of beauty and vertue 1720 iſt dieſer Fixirung äußerer Merkmale nicht unmittelbar anzuklagen; aber indem er die Platoniſche Beſtimmung des Schönen als der Einheit im Mannigfaltigen empiriſch darzuthun ſucht, ſo verliert ſie ihm die Bedeutung eines geiſtigen Bandes, wird ihm zur „Einförmigkeit“ und ſofort zur Symmetrie im engeren geometriſchen Sinne; ſo hält er ſie als kryſtalliſche Form feſt, ferner in den Reichen des Organiſchen namentlich in dem gewöhnlichen ebengenannten Sinne eines Gegenüberſtehens gleicher gedoppelter Glieder und endlich als meßbare Proportion insbeſondere in den Verhältniſſen des menſchlichen Leibes. Er überſieht völlig, daß die Symmetrie und Proportion in dieſem geometriſchen Sinne nur das Gerippe der Schönheit iſt, zwiſchen welchem die zufällige Linie frei hindurchſpielt. Ebendaher nun, weil ihm ganz der Begriff einer Durchdringung der Regel mit dem Zufälligen der einzelnen Exiſtenz fehlt, ſpricht er auch ganz unbefangen von der Schönheit in mathematiſchen Figuren und in Lehrſätzen. Dieſe ſind ſchön, weil ſie eine Menge von Wahrheiten in genauer Ueber- einſtimmung enthalten u. ſ. f. Hogarth in ſeinem barocken, doch nicht unintereſſanten Buche: Analysis of beauty 1753 hat das Verdienſt, über die mathematiſche Fixirung inſofern hinausgekommen zu ſeyn, als er das, was blos eine der Grundlagen und blos theilweiſe conditio sine qua non der ſchönen Form iſt, in dieſem blos relativen Sinne auch begriffen hat. Freilich geht er dabei ſehr verworren zu Werke, indem er die Begriffe der Richtigkeit, der Mannigfaltigkeit, der Gleichförmigkeit (d. h. auch bei ihm der Regelmäßigkeit oder Symmetrie im Sinne des geometriſchen Paralleliſmus), der Einfachheit „oder Deutlichkeit,“ ohne alle Ordnung, ohne alle Unterſuchung ihres inneren Zuſammenhangs aufführt, dazwiſchen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/118
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/118>, abgerufen am 26.04.2024.