Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Alterthum, Mittelalter, die südlichen und katholischen Völker üben am
glücklichsten die Posse, in der nordischen und protestantischen Welt ist diese
Form so zurückgedrängt, wie ihr Fest, der Carneval, erstorben ist, doch
verschwunden ist sie darum nicht; die unteren Stände bleiben ihr zugethan
und die höchste Bildung kann, darf und soll sie nicht fallen lassen.
J. Paul und Göthe sind genannt, auch Tieck ist noch sehr stark im
Derb-Komischen. Der Gebildetste soll noch über das Komische der groben
Collisionen der vollen und herzlichen Lache sich nicht schämen.

§. 190.

Naiv ist also die erzeugende Thätigkeit im ganzen Vorgange; sie bedarf
für das erste Glied und das Gegenglied einer greiflichen Form, weil sie den
innern Mittelpunkt im Gegenstande noch nicht von seiner äußern Erscheinung
unterscheidet, und dies kann sie nicht, weil die ganze Subjectivität in sich selbst
den Bruch dieser Unterscheidung noch nicht vollzieht. Ebendaher und weil die
Greiflichkeit der Form einen ganz öffentlichen und massenhaften Charakter be-
dingt, ist diese Stufe des Komischen zugleich volksthümlich und als mütterlicher,
ursprünglicher, aber bei allem Fortschritte zu feineren Stufen sich erhaltender
Boden aller Komik elementarisch zu nennen. Mangelt ihr nun tieferes
Bewußtseyn und Insichgehen, so ist sie dafür ohne alle Heimlichkeit und Absicht-
lichkeit und geht vertraulich und gemüthlich im Strome der Dinge mit fort.

Die hier aufgestellten Begriffe sind schon durch die früheren Be-
merkungen begründet. Das Vertrauliche und Gemüthliche ist noch be-
sonders hervorzuheben, wird aber seinen ganzen Werth erst im Gegensatze
gegen den jetzt darzustellenden Charakter des Witzes zeigen. Weil Alles
herausgeht, ist auch kein Rückhalt da. Daher hat auch die Kirche die
Narren- und Eselsfeste nicht gefürchtet; als aber einst in Frankreich ein
Gesetz dagegen erschien, erklärte die Geistlichkeit einer Diöcese, man solle
der Narrheit den Sponden nur öffnen, sonst schlage er dem Fasse den
Boden aus. Die Posse ist grob, selbst grausam, aber nicht schneidend;
sie gehört Menschen, die sich und der Welt ihren Lauf lassen und in
der Masse des Lebens harmlos mitschwimmen.

§. 191.

Dieser Form des Komischen fehlt demnach zwar im Umfange ihrer
Momente nichts, was zum Wesen des Komischen gehört; allein wenn die

Alterthum, Mittelalter, die ſüdlichen und katholiſchen Völker üben am
glücklichſten die Poſſe, in der nordiſchen und proteſtantiſchen Welt iſt dieſe
Form ſo zurückgedrängt, wie ihr Feſt, der Carneval, erſtorben iſt, doch
verſchwunden iſt ſie darum nicht; die unteren Stände bleiben ihr zugethan
und die höchſte Bildung kann, darf und ſoll ſie nicht fallen laſſen.
J. Paul und Göthe ſind genannt, auch Tieck iſt noch ſehr ſtark im
Derb-Komiſchen. Der Gebildetſte ſoll noch über das Komiſche der groben
Colliſionen der vollen und herzlichen Lache ſich nicht ſchämen.

§. 190.

Naiv iſt alſo die erzeugende Thätigkeit im ganzen Vorgange; ſie bedarf
für das erſte Glied und das Gegenglied einer greiflichen Form, weil ſie den
innern Mittelpunkt im Gegenſtande noch nicht von ſeiner äußern Erſcheinung
unterſcheidet, und dies kann ſie nicht, weil die ganze Subjectivität in ſich ſelbſt
den Bruch dieſer Unterſcheidung noch nicht vollzieht. Ebendaher und weil die
Greiflichkeit der Form einen ganz öffentlichen und maſſenhaften Charakter be-
dingt, iſt dieſe Stufe des Komiſchen zugleich volksthümlich und als mütterlicher,
urſprünglicher, aber bei allem Fortſchritte zu feineren Stufen ſich erhaltender
Boden aller Komik elementariſch zu nennen. Mangelt ihr nun tieferes
Bewußtſeyn und Inſichgehen, ſo iſt ſie dafür ohne alle Heimlichkeit und Abſicht-
lichkeit und geht vertraulich und gemüthlich im Strome der Dinge mit fort.

Die hier aufgeſtellten Begriffe ſind ſchon durch die früheren Be-
merkungen begründet. Das Vertrauliche und Gemüthliche iſt noch be-
ſonders hervorzuheben, wird aber ſeinen ganzen Werth erſt im Gegenſatze
gegen den jetzt darzuſtellenden Charakter des Witzes zeigen. Weil Alles
herausgeht, iſt auch kein Rückhalt da. Daher hat auch die Kirche die
Narren- und Eſelsfeſte nicht gefürchtet; als aber einſt in Frankreich ein
Geſetz dagegen erſchien, erklärte die Geiſtlichkeit einer Diöceſe, man ſolle
der Narrheit den Sponden nur öffnen, ſonſt ſchlage er dem Faſſe den
Boden aus. Die Poſſe iſt grob, ſelbſt grauſam, aber nicht ſchneidend;
ſie gehört Menſchen, die ſich und der Welt ihren Lauf laſſen und in
der Maſſe des Lebens harmlos mitſchwimmen.

§. 191.

Dieſer Form des Komiſchen fehlt demnach zwar im Umfange ihrer
Momente nichts, was zum Weſen des Komiſchen gehört; allein wenn die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0428" n="414"/>
Alterthum, Mittelalter, die &#x017F;üdlichen und katholi&#x017F;chen Völker üben am<lb/>
glücklich&#x017F;ten die Po&#x017F;&#x017F;e, in der nordi&#x017F;chen und prote&#x017F;tanti&#x017F;chen Welt i&#x017F;t die&#x017F;e<lb/>
Form &#x017F;o zurückgedrängt, wie ihr Fe&#x017F;t, der Carneval, er&#x017F;torben i&#x017F;t, doch<lb/>
ver&#x017F;chwunden i&#x017F;t &#x017F;ie darum nicht; die unteren Stände bleiben ihr zugethan<lb/>
und die höch&#x017F;te Bildung kann, darf und &#x017F;oll &#x017F;ie nicht fallen la&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
J. <hi rendition="#g">Paul</hi> und <hi rendition="#g">Göthe</hi> &#x017F;ind genannt, auch <hi rendition="#g">Tieck</hi> i&#x017F;t noch &#x017F;ehr &#x017F;tark im<lb/>
Derb-Komi&#x017F;chen. Der Gebildet&#x017F;te &#x017F;oll noch über das Komi&#x017F;che der groben<lb/>
Colli&#x017F;ionen der vollen und herzlichen Lache &#x017F;ich nicht &#x017F;chämen.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 190.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Naiv i&#x017F;t al&#x017F;o die erzeugende Thätigkeit im ganzen Vorgange; &#x017F;ie bedarf<lb/>
für das er&#x017F;te Glied und das Gegenglied einer greiflichen Form, weil &#x017F;ie den<lb/>
innern Mittelpunkt im Gegen&#x017F;tande noch nicht von &#x017F;einer äußern Er&#x017F;cheinung<lb/>
unter&#x017F;cheidet, und dies kann &#x017F;ie nicht, weil die ganze Subjectivität in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
den Bruch die&#x017F;er Unter&#x017F;cheidung noch nicht vollzieht. Ebendaher und weil die<lb/>
Greiflichkeit der Form einen ganz öffentlichen und ma&#x017F;&#x017F;enhaften Charakter be-<lb/>
dingt, i&#x017F;t die&#x017F;e Stufe des Komi&#x017F;chen zugleich <hi rendition="#g">volksthümlich</hi> und als mütterlicher,<lb/>
ur&#x017F;prünglicher, aber bei allem Fort&#x017F;chritte zu feineren Stufen &#x017F;ich erhaltender<lb/>
Boden aller Komik <hi rendition="#g">elementari&#x017F;ch</hi> zu nennen. Mangelt ihr nun tieferes<lb/>
Bewußt&#x017F;eyn und In&#x017F;ichgehen, &#x017F;o i&#x017F;t &#x017F;ie dafür ohne alle Heimlichkeit und Ab&#x017F;icht-<lb/>
lichkeit und geht vertraulich und gemüthlich im Strome der Dinge mit fort.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Die hier aufge&#x017F;tellten Begriffe &#x017F;ind &#x017F;chon durch die früheren Be-<lb/>
merkungen begründet. Das Vertrauliche und Gemüthliche i&#x017F;t noch be-<lb/>
&#x017F;onders hervorzuheben, wird aber &#x017F;einen ganzen Werth er&#x017F;t im Gegen&#x017F;atze<lb/>
gegen den jetzt darzu&#x017F;tellenden Charakter des Witzes zeigen. Weil Alles<lb/>
herausgeht, i&#x017F;t auch kein Rückhalt da. Daher hat auch die Kirche die<lb/>
Narren- und E&#x017F;elsfe&#x017F;te nicht gefürchtet; als aber ein&#x017F;t in Frankreich ein<lb/>
Ge&#x017F;etz dagegen er&#x017F;chien, erklärte die Gei&#x017F;tlichkeit einer Diöce&#x017F;e, man &#x017F;olle<lb/>
der Narrheit den Sponden nur öffnen, &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;chlage er dem Fa&#x017F;&#x017F;e den<lb/>
Boden aus. Die Po&#x017F;&#x017F;e i&#x017F;t grob, &#x017F;elb&#x017F;t grau&#x017F;am, aber nicht &#x017F;chneidend;<lb/>
&#x017F;ie gehört Men&#x017F;chen, die &#x017F;ich und der Welt ihren Lauf la&#x017F;&#x017F;en und in<lb/>
der Ma&#x017F;&#x017F;e des Lebens harmlos mit&#x017F;chwimmen.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 191.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Die&#x017F;er Form des Komi&#x017F;chen fehlt demnach zwar im Umfange ihrer<lb/>
Momente nichts, was zum We&#x017F;en des Komi&#x017F;chen gehört; allein wenn die<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[414/0428] Alterthum, Mittelalter, die ſüdlichen und katholiſchen Völker üben am glücklichſten die Poſſe, in der nordiſchen und proteſtantiſchen Welt iſt dieſe Form ſo zurückgedrängt, wie ihr Feſt, der Carneval, erſtorben iſt, doch verſchwunden iſt ſie darum nicht; die unteren Stände bleiben ihr zugethan und die höchſte Bildung kann, darf und ſoll ſie nicht fallen laſſen. J. Paul und Göthe ſind genannt, auch Tieck iſt noch ſehr ſtark im Derb-Komiſchen. Der Gebildetſte ſoll noch über das Komiſche der groben Colliſionen der vollen und herzlichen Lache ſich nicht ſchämen. §. 190. Naiv iſt alſo die erzeugende Thätigkeit im ganzen Vorgange; ſie bedarf für das erſte Glied und das Gegenglied einer greiflichen Form, weil ſie den innern Mittelpunkt im Gegenſtande noch nicht von ſeiner äußern Erſcheinung unterſcheidet, und dies kann ſie nicht, weil die ganze Subjectivität in ſich ſelbſt den Bruch dieſer Unterſcheidung noch nicht vollzieht. Ebendaher und weil die Greiflichkeit der Form einen ganz öffentlichen und maſſenhaften Charakter be- dingt, iſt dieſe Stufe des Komiſchen zugleich volksthümlich und als mütterlicher, urſprünglicher, aber bei allem Fortſchritte zu feineren Stufen ſich erhaltender Boden aller Komik elementariſch zu nennen. Mangelt ihr nun tieferes Bewußtſeyn und Inſichgehen, ſo iſt ſie dafür ohne alle Heimlichkeit und Abſicht- lichkeit und geht vertraulich und gemüthlich im Strome der Dinge mit fort. Die hier aufgeſtellten Begriffe ſind ſchon durch die früheren Be- merkungen begründet. Das Vertrauliche und Gemüthliche iſt noch be- ſonders hervorzuheben, wird aber ſeinen ganzen Werth erſt im Gegenſatze gegen den jetzt darzuſtellenden Charakter des Witzes zeigen. Weil Alles herausgeht, iſt auch kein Rückhalt da. Daher hat auch die Kirche die Narren- und Eſelsfeſte nicht gefürchtet; als aber einſt in Frankreich ein Geſetz dagegen erſchien, erklärte die Geiſtlichkeit einer Diöceſe, man ſolle der Narrheit den Sponden nur öffnen, ſonſt ſchlage er dem Faſſe den Boden aus. Die Poſſe iſt grob, ſelbſt grauſam, aber nicht ſchneidend; ſie gehört Menſchen, die ſich und der Welt ihren Lauf laſſen und in der Maſſe des Lebens harmlos mitſchwimmen. §. 191. Dieſer Form des Komiſchen fehlt demnach zwar im Umfange ihrer Momente nichts, was zum Weſen des Komiſchen gehört; allein wenn die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/428
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/428>, abgerufen am 30.12.2024.