diesem Strom in's Unendliche hinaus, wir gleichen Faust, der bei dem Anblick des Erdgeistes seine freie Kraft durch die Adern der Natur fließen fühlt und schaffend Götterleben zu genießen sich ahnungsvoll ver- mißt, der mit dem geschäftigen Geiste die weite Welt umschweift.
§. 142.
1
Das Erhabene des Subjects erregt als Leidenschaft ein Gefühl des Erliegens vor der angeschauten Größe, das noch der Furcht vor der blosen Kraft enge verwandt ist, das Böse Grausen, das positiv Pathetische Beschämung und Hochachtung, das negativ Pathetische, nachdem zuerst die Furcht vor dem angedrohten Leiden in Bewegung gesetzt ist, Mitleiden, welches mit der Furcht für den Bedrohten sich wechselseitig bedingt, und darauf Ehrfurcht. Aus 2diesen Empfindungen der Unlust erhebt sich das anschauende Subject zu dem Bewußtseyn seiner eigenen wahren Unendlichkeit, verbrüdert sich mit dem ange- schauten Subjecte, und die Furcht vor der Gewalt der Leidenschaft wird eigenes Kraftgefühl und Muth, das Grausen genießt im Anblicke der Verkehrung selbst die Unendlichkeit der Subjectivität, die Hochachtung wird Selbstachtung, das Mitleid reinigt sich durch die Ehrfurcht zu dem Gefühle der eigenen Fähigkeit, im äußersten Leiden selbst die reine Freiheit des Willens zu be- währen.
1. Es kann hier nicht Aufgabe seyn, die ganze Tonleiter der Em- pfindungen zu verfolgen, welche das Erhabene des Subjects erregt. So ist auch der Wechsel zwischen Achtung und Geringschätzung nicht besonders hervorgehoben, den der Anblick des schwankenden Willens (§. 116) her- vorrufen muß. Hochachtung und Ehrfurcht sind zunächst als Gefühle der Unlust bezeichnet, indem das negative Moment, welches darin liegt, durch die wissenschaftliche Betrachtung von dem positiven getrennt wird. Man denke an einen Burgognino, der, da Fiesko die Maske von seiner Größe fallen läßt, in einen Stuhl sinkt mit den Worten: bin ich denn gar nichts mehr? -- Zu den Gefühlen der Unlust ist auch das Mitleiden gezählt. Es ist in der Furcht schon eingeschlossen, denn: "alles das ist uns furchtbar, was, wenn es einem Andern begegnet wäre oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken würde, und Alles das finden wir mit- leidswerth, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstände" (Aristoteles Rhetor. II, 5.), und umgekehrt: "Mitleid ist Schmerzgefühl
dieſem Strom in’s Unendliche hinaus, wir gleichen Fauſt, der bei dem Anblick des Erdgeiſtes ſeine freie Kraft durch die Adern der Natur fließen fühlt und ſchaffend Götterleben zu genießen ſich ahnungsvoll ver- mißt, der mit dem geſchäftigen Geiſte die weite Welt umſchweift.
§. 142.
1
Das Erhabene des Subjects erregt als Leidenſchaft ein Gefühl des Erliegens vor der angeſchauten Größe, das noch der Furcht vor der bloſen Kraft enge verwandt iſt, das Böſe Grauſen, das poſitiv Pathetiſche Beſchämung und Hochachtung, das negativ Pathetiſche, nachdem zuerſt die Furcht vor dem angedrohten Leiden in Bewegung geſetzt iſt, Mitleiden, welches mit der Furcht für den Bedrohten ſich wechſelſeitig bedingt, und darauf Ehrfurcht. Aus 2dieſen Empfindungen der Unluſt erhebt ſich das anſchauende Subject zu dem Bewußtſeyn ſeiner eigenen wahren Unendlichkeit, verbrüdert ſich mit dem ange- ſchauten Subjecte, und die Furcht vor der Gewalt der Leidenſchaft wird eigenes Kraftgefühl und Muth, das Grauſen genießt im Anblicke der Verkehrung ſelbſt die Unendlichkeit der Subjectivität, die Hochachtung wird Selbſtachtung, das Mitleid reinigt ſich durch die Ehrfurcht zu dem Gefühle der eigenen Fähigkeit, im äußerſten Leiden ſelbſt die reine Freiheit des Willens zu be- währen.
1. Es kann hier nicht Aufgabe ſeyn, die ganze Tonleiter der Em- pfindungen zu verfolgen, welche das Erhabene des Subjects erregt. So iſt auch der Wechſel zwiſchen Achtung und Geringſchätzung nicht beſonders hervorgehoben, den der Anblick des ſchwankenden Willens (§. 116) her- vorrufen muß. Hochachtung und Ehrfurcht ſind zunächſt als Gefühle der Unluſt bezeichnet, indem das negative Moment, welches darin liegt, durch die wiſſenſchaftliche Betrachtung von dem poſitiven getrennt wird. Man denke an einen Burgognino, der, da Fiesko die Maske von ſeiner Größe fallen läßt, in einen Stuhl ſinkt mit den Worten: bin ich denn gar nichts mehr? — Zu den Gefühlen der Unluſt iſt auch das Mitleiden gezählt. Es iſt in der Furcht ſchon eingeſchloſſen, denn: „alles das iſt uns furchtbar, was, wenn es einem Andern begegnet wäre oder begegnen ſollte, unſer Mitleid erwecken würde, und Alles das finden wir mit- leidswerth, was wir fürchten würden, wenn es uns ſelbſt bevorſtände“ (Ariſtoteles Rhetor. II, 5.), und umgekehrt: „Mitleid iſt Schmerzgefühl
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0340"n="326"/>
dieſem Strom in’s Unendliche hinaus, wir gleichen Fauſt, der bei dem<lb/>
Anblick des Erdgeiſtes ſeine freie Kraft durch die Adern der Natur<lb/>
fließen fühlt und ſchaffend Götterleben zu genießen ſich ahnungsvoll ver-<lb/>
mißt, der mit dem geſchäftigen Geiſte die weite Welt umſchweift.</hi></p></div><lb/><divn="5"><head>§. 142.</head><lb/><noteplace="left"><hirendition="#fr">1</hi></note><p><hirendition="#fr"><hirendition="#g">Das Erhabene des Subjects</hi> erregt als Leidenſchaft ein Gefühl<lb/>
des Erliegens vor der angeſchauten Größe, das noch der Furcht vor der bloſen<lb/>
Kraft enge verwandt iſt, das Böſe Grauſen, das poſitiv Pathetiſche Beſchämung<lb/>
und Hochachtung, das negativ Pathetiſche, nachdem zuerſt die Furcht vor<lb/>
dem angedrohten Leiden in Bewegung geſetzt iſt, Mitleiden, welches mit der<lb/>
Furcht für den Bedrohten ſich wechſelſeitig bedingt, und darauf Ehrfurcht. Aus<lb/><noteplace="left">2</note>dieſen Empfindungen der Unluſt erhebt ſich das anſchauende Subject zu dem<lb/>
Bewußtſeyn ſeiner eigenen wahren Unendlichkeit, verbrüdert ſich mit dem ange-<lb/>ſchauten Subjecte, und die Furcht vor der Gewalt der Leidenſchaft wird eigenes<lb/>
Kraftgefühl und Muth, das Grauſen genießt im Anblicke der Verkehrung<lb/>ſelbſt die Unendlichkeit der Subjectivität, die Hochachtung wird Selbſtachtung,<lb/>
das Mitleid reinigt ſich durch die Ehrfurcht zu dem Gefühle der eigenen<lb/>
Fähigkeit, im äußerſten Leiden ſelbſt die reine Freiheit des Willens zu be-<lb/>
währen.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">1. Es kann hier nicht Aufgabe ſeyn, die ganze Tonleiter der Em-<lb/>
pfindungen zu verfolgen, welche das Erhabene des Subjects erregt. So<lb/>
iſt auch der Wechſel zwiſchen Achtung und Geringſchätzung nicht beſonders<lb/>
hervorgehoben, den der Anblick des ſchwankenden Willens (§. 116) her-<lb/>
vorrufen muß. Hochachtung und Ehrfurcht ſind zunächſt als Gefühle der<lb/>
Unluſt bezeichnet, indem das negative Moment, welches darin liegt, durch<lb/>
die wiſſenſchaftliche Betrachtung von dem poſitiven getrennt wird. Man<lb/>
denke an einen <hirendition="#g">Burgognino</hi>, der, da <hirendition="#g">Fiesko</hi> die Maske von ſeiner<lb/>
Größe fallen läßt, in einen Stuhl ſinkt mit den Worten: bin ich denn<lb/>
gar nichts mehr? — Zu den Gefühlen der Unluſt iſt auch das Mitleiden<lb/>
gezählt. Es iſt in der Furcht ſchon eingeſchloſſen, denn: „alles das iſt<lb/>
uns furchtbar, was, wenn es einem Andern begegnet wäre oder begegnen<lb/>ſollte, unſer Mitleid erwecken würde, und Alles das finden wir mit-<lb/>
leidswerth, was wir fürchten würden, wenn es uns ſelbſt bevorſtände“<lb/>
(<hirendition="#g">Ariſtoteles</hi> Rhetor. <hirendition="#aq">II,</hi> 5.), und umgekehrt: „Mitleid iſt Schmerzgefühl<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[326/0340]
dieſem Strom in’s Unendliche hinaus, wir gleichen Fauſt, der bei dem
Anblick des Erdgeiſtes ſeine freie Kraft durch die Adern der Natur
fließen fühlt und ſchaffend Götterleben zu genießen ſich ahnungsvoll ver-
mißt, der mit dem geſchäftigen Geiſte die weite Welt umſchweift.
§. 142.
Das Erhabene des Subjects erregt als Leidenſchaft ein Gefühl
des Erliegens vor der angeſchauten Größe, das noch der Furcht vor der bloſen
Kraft enge verwandt iſt, das Böſe Grauſen, das poſitiv Pathetiſche Beſchämung
und Hochachtung, das negativ Pathetiſche, nachdem zuerſt die Furcht vor
dem angedrohten Leiden in Bewegung geſetzt iſt, Mitleiden, welches mit der
Furcht für den Bedrohten ſich wechſelſeitig bedingt, und darauf Ehrfurcht. Aus
dieſen Empfindungen der Unluſt erhebt ſich das anſchauende Subject zu dem
Bewußtſeyn ſeiner eigenen wahren Unendlichkeit, verbrüdert ſich mit dem ange-
ſchauten Subjecte, und die Furcht vor der Gewalt der Leidenſchaft wird eigenes
Kraftgefühl und Muth, das Grauſen genießt im Anblicke der Verkehrung
ſelbſt die Unendlichkeit der Subjectivität, die Hochachtung wird Selbſtachtung,
das Mitleid reinigt ſich durch die Ehrfurcht zu dem Gefühle der eigenen
Fähigkeit, im äußerſten Leiden ſelbſt die reine Freiheit des Willens zu be-
währen.
1. Es kann hier nicht Aufgabe ſeyn, die ganze Tonleiter der Em-
pfindungen zu verfolgen, welche das Erhabene des Subjects erregt. So
iſt auch der Wechſel zwiſchen Achtung und Geringſchätzung nicht beſonders
hervorgehoben, den der Anblick des ſchwankenden Willens (§. 116) her-
vorrufen muß. Hochachtung und Ehrfurcht ſind zunächſt als Gefühle der
Unluſt bezeichnet, indem das negative Moment, welches darin liegt, durch
die wiſſenſchaftliche Betrachtung von dem poſitiven getrennt wird. Man
denke an einen Burgognino, der, da Fiesko die Maske von ſeiner
Größe fallen läßt, in einen Stuhl ſinkt mit den Worten: bin ich denn
gar nichts mehr? — Zu den Gefühlen der Unluſt iſt auch das Mitleiden
gezählt. Es iſt in der Furcht ſchon eingeſchloſſen, denn: „alles das iſt
uns furchtbar, was, wenn es einem Andern begegnet wäre oder begegnen
ſollte, unſer Mitleid erwecken würde, und Alles das finden wir mit-
leidswerth, was wir fürchten würden, wenn es uns ſelbſt bevorſtände“
(Ariſtoteles Rhetor. II, 5.), und umgekehrt: „Mitleid iſt Schmerzgefühl
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/340>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.