Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

oder die Vernunft; der Zweckbegriff und das Urtheil bleiben verständige
Reflexionsformen, welche freilich durch ihre innere Dialektik zur Auflösung
ihrer Relationen in die Einheit und so des Zweckbegriffs in den der inneren
Zweckmäßigkeit, worin sich der Zweck selbst aufhebt, hinüberführen, aber
nur so, wie alle andern trennenden Denk-Formen sich selbst über sich hinaus-
treiben, ohne deßwegen ihre Stelle anderswo zu behaupten, als im Gebiete
des Verstands, oder nach Hegel des Wesens und des Begriffs, aber nicht
der Idee. Hiemit fällt, da Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit so zu
trennen nicht minder willkürlich ist, als Verstand und Urtheilskraft, und
da an die Stelle der Zweckmäßigkeit, welche dem Schönen zu Grunde
liegen soll, vielmehr der Endzweck tritt, auch die Folge in der dritten
Colonne sammt ihrer schiefen Parallele in der zweiten, wo die Vernunft
dieselbe falsche Stufe unter dem Vermögen des Schönen einnimmt; hiemit
fällt aber auch die vierte und alle diese Bemerkungen gehen darauf hinaus,
daß sie umzuändern wäre in:

Natur,
Freiheit,
Kunst.

Es wurde hier ebendeßwegen die Kritik der Kant'schen Eintheilung
mit einiger Weitläufigkeit behandelt, weil sie belehrend ist in dem Sinne
einer Nachweisung, wie immer Schiefheit aller Art entsteht, wenn die
Philosophie nicht dreigliedrig eingetheilt wird, weil sie aber bei allen
Mängeln so viel Scharfsinn und Ahnung in sich hat, daß sie auch jetzt
noch die Prüfung verdient. Auf den Hauptpunkt, die Einführung des
Begriffs der Zweckmäßigkeit in die Lehre vom Schönen, muß am gehörigen
Orte noch weiter eingegangen werden.

§. 4.

Das Schöne ist weder theoretisch, noch praktisch; es ist aber auch sowohl1
das eine, als das andere, woraus eben folgt, daß es das eine wie das andere
in einem Sinne ist, wodurch der Gegensatz beider sich aufhebt, daß es daher
seinen Platz in einer Sphäre über diesen Gegensätzen finden muß; und ebenda
fordern auch zwei andere Formen des Geistes ihre Stelle: die Religion und die2
Philosophie selbst. Diese Formen gehören nämlich, wie die Schönheit, dem
Geiste an, der nicht mehr den Gegensatz zwischen Subject und Object, sey es
als erkennender oder handelnder, zu überwinden erst strebt, sondern überwunden
hat und sein ungetheiltes Wesen in einer absoluten, reinen Form darstellt. So

2*

oder die Vernunft; der Zweckbegriff und das Urtheil bleiben verſtändige
Reflexionsformen, welche freilich durch ihre innere Dialektik zur Auflöſung
ihrer Relationen in die Einheit und ſo des Zweckbegriffs in den der inneren
Zweckmäßigkeit, worin ſich der Zweck ſelbſt aufhebt, hinüberführen, aber
nur ſo, wie alle andern trennenden Denk-Formen ſich ſelbſt über ſich hinaus-
treiben, ohne deßwegen ihre Stelle anderswo zu behaupten, als im Gebiete
des Verſtands, oder nach Hegel des Weſens und des Begriffs, aber nicht
der Idee. Hiemit fällt, da Geſetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit ſo zu
trennen nicht minder willkürlich iſt, als Verſtand und Urtheilskraft, und
da an die Stelle der Zweckmäßigkeit, welche dem Schönen zu Grunde
liegen ſoll, vielmehr der Endzweck tritt, auch die Folge in der dritten
Colonne ſammt ihrer ſchiefen Parallele in der zweiten, wo die Vernunft
dieſelbe falſche Stufe unter dem Vermögen des Schönen einnimmt; hiemit
fällt aber auch die vierte und alle dieſe Bemerkungen gehen darauf hinaus,
daß ſie umzuändern wäre in:

Natur,
Freiheit,
Kunſt.

Es wurde hier ebendeßwegen die Kritik der Kant’ſchen Eintheilung
mit einiger Weitläufigkeit behandelt, weil ſie belehrend iſt in dem Sinne
einer Nachweiſung, wie immer Schiefheit aller Art entſteht, wenn die
Philoſophie nicht dreigliedrig eingetheilt wird, weil ſie aber bei allen
Mängeln ſo viel Scharfſinn und Ahnung in ſich hat, daß ſie auch jetzt
noch die Prüfung verdient. Auf den Hauptpunkt, die Einführung des
Begriffs der Zweckmäßigkeit in die Lehre vom Schönen, muß am gehörigen
Orte noch weiter eingegangen werden.

§. 4.

Das Schöne iſt weder theoretiſch, noch praktiſch; es iſt aber auch ſowohl1
das eine, als das andere, woraus eben folgt, daß es das eine wie das andere
in einem Sinne iſt, wodurch der Gegenſatz beider ſich aufhebt, daß es daher
ſeinen Platz in einer Sphäre über dieſen Gegenſätzen finden muß; und ebenda
fordern auch zwei andere Formen des Geiſtes ihre Stelle: die Religion und die2
Philoſophie ſelbſt. Dieſe Formen gehören nämlich, wie die Schönheit, dem
Geiſte an, der nicht mehr den Gegenſatz zwiſchen Subject und Object, ſey es
als erkennender oder handelnder, zu überwinden erſt ſtrebt, ſondern überwunden
hat und ſein ungetheiltes Weſen in einer abſoluten, reinen Form darſtellt. So

2*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0033" n="19"/>
oder die Vernunft; der Zweckbegriff und das Urtheil bleiben ver&#x017F;tändige<lb/>
Reflexionsformen, welche freilich durch ihre innere Dialektik zur Auflö&#x017F;ung<lb/>
ihrer Relationen in die Einheit und &#x017F;o des Zweckbegriffs in den der inneren<lb/>
Zweckmäßigkeit, worin &#x017F;ich der Zweck &#x017F;elb&#x017F;t aufhebt, hinüberführen, aber<lb/>
nur &#x017F;o, wie alle andern trennenden Denk-Formen &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t über &#x017F;ich hinaus-<lb/>
treiben, ohne deßwegen ihre Stelle anderswo zu behaupten, als im Gebiete<lb/>
des Ver&#x017F;tands, oder nach <hi rendition="#g">Hegel</hi> des We&#x017F;ens und des Begriffs, aber nicht<lb/>
der Idee. Hiemit fällt, da Ge&#x017F;etzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit &#x017F;o zu<lb/>
trennen nicht minder willkürlich i&#x017F;t, als Ver&#x017F;tand und Urtheilskraft, und<lb/>
da an die Stelle der Zweckmäßigkeit, welche dem Schönen zu Grunde<lb/>
liegen &#x017F;oll, vielmehr der Endzweck tritt, auch die Folge in der dritten<lb/>
Colonne &#x017F;ammt ihrer &#x017F;chiefen Parallele in der zweiten, wo die Vernunft<lb/>
die&#x017F;elbe fal&#x017F;che Stufe unter dem Vermögen des Schönen einnimmt; hiemit<lb/>
fällt aber auch die vierte und alle die&#x017F;e Bemerkungen gehen darauf hinaus,<lb/>
daß &#x017F;ie umzuändern wäre in:</hi> </p><lb/>
          <list>
            <item>Natur,</item><lb/>
            <item>Freiheit,</item><lb/>
            <item>Kun&#x017F;t.</item>
          </list><lb/>
          <p> <hi rendition="#et">Es wurde hier ebendeßwegen die Kritik der <hi rendition="#g">Kant&#x2019;&#x017F;</hi>chen Eintheilung<lb/>
mit einiger Weitläufigkeit behandelt, weil &#x017F;ie belehrend i&#x017F;t in dem Sinne<lb/>
einer Nachwei&#x017F;ung, wie immer Schiefheit aller Art ent&#x017F;teht, wenn die<lb/>
Philo&#x017F;ophie nicht dreigliedrig eingetheilt wird, weil &#x017F;ie aber bei allen<lb/>
Mängeln &#x017F;o viel Scharf&#x017F;inn und Ahnung in &#x017F;ich hat, daß &#x017F;ie auch jetzt<lb/>
noch die Prüfung verdient. Auf den Hauptpunkt, die Einführung des<lb/>
Begriffs der Zweckmäßigkeit in die Lehre vom Schönen, muß am gehörigen<lb/>
Orte noch weiter eingegangen werden.</hi> </p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>§. 4.</head><lb/>
          <p> <hi rendition="#fr">Das Schöne i&#x017F;t weder theoreti&#x017F;ch, noch prakti&#x017F;ch; es i&#x017F;t aber auch &#x017F;owohl<note place="right">1</note><lb/>
das eine, als das andere, woraus eben folgt, daß es das eine wie das andere<lb/>
in einem Sinne i&#x017F;t, wodurch der Gegen&#x017F;atz beider &#x017F;ich aufhebt, daß es daher<lb/>
&#x017F;einen Platz in einer Sphäre über die&#x017F;en Gegen&#x017F;ätzen finden muß; und ebenda<lb/>
fordern auch zwei andere Formen des Gei&#x017F;tes ihre Stelle: die Religion und die<note place="right">2</note><lb/>
Philo&#x017F;ophie &#x017F;elb&#x017F;t. Die&#x017F;e Formen gehören nämlich, wie die Schönheit, dem<lb/>
Gei&#x017F;te an, der nicht mehr den Gegen&#x017F;atz zwi&#x017F;chen Subject und Object, &#x017F;ey es<lb/>
als erkennender oder handelnder, zu überwinden er&#x017F;t &#x017F;trebt, &#x017F;ondern überwunden<lb/>
hat und &#x017F;ein ungetheiltes We&#x017F;en in einer ab&#x017F;oluten, reinen Form dar&#x017F;tellt. So</hi><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">2*</fw><lb/>
          </p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0033] oder die Vernunft; der Zweckbegriff und das Urtheil bleiben verſtändige Reflexionsformen, welche freilich durch ihre innere Dialektik zur Auflöſung ihrer Relationen in die Einheit und ſo des Zweckbegriffs in den der inneren Zweckmäßigkeit, worin ſich der Zweck ſelbſt aufhebt, hinüberführen, aber nur ſo, wie alle andern trennenden Denk-Formen ſich ſelbſt über ſich hinaus- treiben, ohne deßwegen ihre Stelle anderswo zu behaupten, als im Gebiete des Verſtands, oder nach Hegel des Weſens und des Begriffs, aber nicht der Idee. Hiemit fällt, da Geſetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit ſo zu trennen nicht minder willkürlich iſt, als Verſtand und Urtheilskraft, und da an die Stelle der Zweckmäßigkeit, welche dem Schönen zu Grunde liegen ſoll, vielmehr der Endzweck tritt, auch die Folge in der dritten Colonne ſammt ihrer ſchiefen Parallele in der zweiten, wo die Vernunft dieſelbe falſche Stufe unter dem Vermögen des Schönen einnimmt; hiemit fällt aber auch die vierte und alle dieſe Bemerkungen gehen darauf hinaus, daß ſie umzuändern wäre in: Natur, Freiheit, Kunſt. Es wurde hier ebendeßwegen die Kritik der Kant’ſchen Eintheilung mit einiger Weitläufigkeit behandelt, weil ſie belehrend iſt in dem Sinne einer Nachweiſung, wie immer Schiefheit aller Art entſteht, wenn die Philoſophie nicht dreigliedrig eingetheilt wird, weil ſie aber bei allen Mängeln ſo viel Scharfſinn und Ahnung in ſich hat, daß ſie auch jetzt noch die Prüfung verdient. Auf den Hauptpunkt, die Einführung des Begriffs der Zweckmäßigkeit in die Lehre vom Schönen, muß am gehörigen Orte noch weiter eingegangen werden. §. 4. Das Schöne iſt weder theoretiſch, noch praktiſch; es iſt aber auch ſowohl das eine, als das andere, woraus eben folgt, daß es das eine wie das andere in einem Sinne iſt, wodurch der Gegenſatz beider ſich aufhebt, daß es daher ſeinen Platz in einer Sphäre über dieſen Gegenſätzen finden muß; und ebenda fordern auch zwei andere Formen des Geiſtes ihre Stelle: die Religion und die Philoſophie ſelbſt. Dieſe Formen gehören nämlich, wie die Schönheit, dem Geiſte an, der nicht mehr den Gegenſatz zwiſchen Subject und Object, ſey es als erkennender oder handelnder, zu überwinden erſt ſtrebt, ſondern überwunden hat und ſein ungetheiltes Weſen in einer abſoluten, reinen Form darſtellt. So 2*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/33
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/33>, abgerufen am 21.12.2024.