Subject ist das alles Seyn und alle Subjecte ebenso Setzende wie Auf- hebende und kommt als solches im Tragischen ausdrücklich zur Dar- stellung. Im wirklichen Leben, sofern es nicht durch zufälliges Aus- bleiben des störenden Zufalls oder etwas Anderes, das wir noch nicht kennen, zu einer reinen ästhetischen Erscheinung befreit ist, collidiren zwei sittliche Mächte, z. B. Freiheit und Gesetz. Nun bleibt aber für eine Schuld, die auf Einer Seite begangen ist, die Strafe aus, es tritt nichts ein, es geschieht nichts, woraus das Gesetz einer höheren, ab- wägenden Gerechtigkeit hervorleuchtete; wir müssen uns damit vertrösten, daß es anderswo und ein andermal gerechter hergehen werde. Dies ist unästhetisches Dunkel, solches Dunkel ist abgewiesen durch §. 53, von solchem ist also im §. nicht die Rede. Dagegen halte man ein Drama, das abwägende Gerechtigkeit in dem einzelnen, bestimmten Falle, den es vorführt, zur Erscheinung bringt. Hier ist Klarheit, allein ich sehe zugleich in ein Weltgesetz hinaus, das in unberechenbarer Weise eine alte Schuld bestraft, eine verborgene Tugend an's Licht führt, das in seinen Erfolgen deutlich, in seinen einzelnen Combinationen und Zufalls- verflechtungen dunkel waltet. Dort kommt das Walten gar nicht zur Erscheinung, nur innerlich glaube ich daran; hier ist das Walten gewiß, aber wie das Gesetz der höchsten Gerechtigkeit waltet, kann man nie vorherwissen, ein Abgrund angedeuteter Verschlingungen thut sich hinter dem klar Vorliegenden auf: dies ist das ästhetische Dunkel des Tragi- schen. Das Schöne hat diesen Abgrund überall, aber im einfach Schö- nen wird man nicht fortgerissen, in seine dunkeln Tiefen zu sehen. Es ist ein Unterschied wie zwischen dem aufgewühlten und dem ruhigen Meer.
§. 122.
Um nun jene Bewegung zu begreifen, ist zuerst festzuhalten, daß die Erhabenheit des Subjects nicht schlechtweg zu Grunde gegangen, sondern ein aufgehobenes Moment ist. Als solches tritt es wieder auf, so nämlich, daß das Verhältniß sich umgedreht hat. Vorher schien das erhabene Subject sich über sich selbst zu erweitern und blieb doch Subject. Jetzt ist die Erhabenheit auf diejenige Seite getreten, wohin das Subject sich erweitert, und dieses er- scheint als eine Beschränkung, welche das höchst Erhabene sich selber gibt und wieder aufhebt. Das Subject tritt hervor auf diesem Hintergrunde und dieser ist vor ihm da, es kommt aus ihm. Seine Erhabenheit ist daher zwar die seinige, der Hintergrund ist in ihm selbst, es ist frei, aber ebensosehr geht der
Subject iſt das alles Seyn und alle Subjecte ebenſo Setzende wie Auf- hebende und kommt als ſolches im Tragiſchen ausdrücklich zur Dar- ſtellung. Im wirklichen Leben, ſofern es nicht durch zufälliges Aus- bleiben des ſtörenden Zufalls oder etwas Anderes, das wir noch nicht kennen, zu einer reinen äſthetiſchen Erſcheinung befreit iſt, collidiren zwei ſittliche Mächte, z. B. Freiheit und Geſetz. Nun bleibt aber für eine Schuld, die auf Einer Seite begangen iſt, die Strafe aus, es tritt nichts ein, es geſchieht nichts, woraus das Geſetz einer höheren, ab- wägenden Gerechtigkeit hervorleuchtete; wir müſſen uns damit vertröſten, daß es anderswo und ein andermal gerechter hergehen werde. Dies iſt unäſthetiſches Dunkel, ſolches Dunkel iſt abgewieſen durch §. 53, von ſolchem iſt alſo im §. nicht die Rede. Dagegen halte man ein Drama, das abwägende Gerechtigkeit in dem einzelnen, beſtimmten Falle, den es vorführt, zur Erſcheinung bringt. Hier iſt Klarheit, allein ich ſehe zugleich in ein Weltgeſetz hinaus, das in unberechenbarer Weiſe eine alte Schuld beſtraft, eine verborgene Tugend an’s Licht führt, das in ſeinen Erfolgen deutlich, in ſeinen einzelnen Combinationen und Zufalls- verflechtungen dunkel waltet. Dort kommt das Walten gar nicht zur Erſcheinung, nur innerlich glaube ich daran; hier iſt das Walten gewiß, aber wie das Geſetz der höchſten Gerechtigkeit waltet, kann man nie vorherwiſſen, ein Abgrund angedeuteter Verſchlingungen thut ſich hinter dem klar Vorliegenden auf: dies iſt das äſthetiſche Dunkel des Tragi- ſchen. Das Schöne hat dieſen Abgrund überall, aber im einfach Schö- nen wird man nicht fortgeriſſen, in ſeine dunkeln Tiefen zu ſehen. Es iſt ein Unterſchied wie zwiſchen dem aufgewühlten und dem ruhigen Meer.
§. 122.
Um nun jene Bewegung zu begreifen, iſt zuerſt feſtzuhalten, daß die Erhabenheit des Subjects nicht ſchlechtweg zu Grunde gegangen, ſondern ein aufgehobenes Moment iſt. Als ſolches tritt es wieder auf, ſo nämlich, daß das Verhältniß ſich umgedreht hat. Vorher ſchien das erhabene Subject ſich über ſich ſelbſt zu erweitern und blieb doch Subject. Jetzt iſt die Erhabenheit auf diejenige Seite getreten, wohin das Subject ſich erweitert, und dieſes er- ſcheint als eine Beſchränkung, welche das höchſt Erhabene ſich ſelber gibt und wieder aufhebt. Das Subject tritt hervor auf dieſem Hintergrunde und dieſer iſt vor ihm da, es kommt aus ihm. Seine Erhabenheit iſt daher zwar die ſeinige, der Hintergrund iſt in ihm ſelbſt, es iſt frei, aber ebenſoſehr geht der
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Subject iſt das alles Seyn und alle Subjecte ebenſo Setzende wie Auf-
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bleiben des ſtörenden Zufalls oder etwas Anderes, das wir noch nicht
kennen, zu einer reinen äſthetiſchen Erſcheinung befreit iſt, collidiren
zwei ſittliche Mächte, z. B. Freiheit und Geſetz. Nun bleibt aber für
eine Schuld, die auf Einer Seite begangen iſt, die Strafe aus, es tritt
nichts ein, es geſchieht nichts, woraus das Geſetz einer höheren, ab-
wägenden Gerechtigkeit hervorleuchtete; wir müſſen uns damit vertröſten,
daß es anderswo und ein andermal gerechter hergehen werde. Dies iſt
unäſthetiſches Dunkel, ſolches Dunkel iſt abgewieſen durch §. 53, von
ſolchem iſt alſo im §. nicht die Rede. Dagegen halte man ein Drama,
das abwägende Gerechtigkeit in dem einzelnen, beſtimmten Falle, den
es vorführt, zur Erſcheinung bringt. Hier iſt Klarheit, allein ich ſehe
zugleich in ein Weltgeſetz hinaus, das in unberechenbarer Weiſe eine
alte Schuld beſtraft, eine verborgene Tugend an’s Licht führt, das in
ſeinen Erfolgen deutlich, in ſeinen einzelnen Combinationen und Zufalls-
verflechtungen dunkel waltet. Dort kommt das Walten gar nicht zur
Erſcheinung, nur innerlich glaube ich daran; hier iſt das Walten gewiß,
aber wie das Geſetz der höchſten Gerechtigkeit waltet, kann man nie
vorherwiſſen, ein Abgrund angedeuteter Verſchlingungen thut ſich hinter
dem klar Vorliegenden auf: dies iſt das äſthetiſche Dunkel des Tragi-
ſchen. Das Schöne hat dieſen Abgrund überall, aber im einfach Schö-
nen wird man nicht fortgeriſſen, in ſeine dunkeln Tiefen zu ſehen. Es
iſt ein Unterſchied wie zwiſchen dem aufgewühlten und dem ruhigen Meer.
§. 122.
Um nun jene Bewegung zu begreifen, iſt zuerſt feſtzuhalten, daß die
Erhabenheit des Subjects nicht ſchlechtweg zu Grunde gegangen, ſondern ein
aufgehobenes Moment iſt. Als ſolches tritt es wieder auf, ſo nämlich, daß
das Verhältniß ſich umgedreht hat. Vorher ſchien das erhabene Subject ſich
über ſich ſelbſt zu erweitern und blieb doch Subject. Jetzt iſt die Erhabenheit
auf diejenige Seite getreten, wohin das Subject ſich erweitert, und dieſes er-
ſcheint als eine Beſchränkung, welche das höchſt Erhabene ſich ſelber gibt und
wieder aufhebt. Das Subject tritt hervor auf dieſem Hintergrunde und dieſer
iſt vor ihm da, es kommt aus ihm. Seine Erhabenheit iſt daher zwar die
ſeinige, der Hintergrund iſt in ihm ſelbſt, es iſt frei, aber ebenſoſehr geht der
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/298>, abgerufen am 21.12.2024.
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