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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Verſchiedene Künſte haben freilich verſchiedenen Umfang der Freiheit, wovon
an ſeinem Orte zu reden iſt.

2. Die Bewährung der Freiheit kann entweder erſt auf einem Punkte
des fortgeſchrittenen Leidens eintreten, oder ſich von Anfang an zugleich mit
dieſem ankündigen. Bleibt ſie aus oder wird ſie nur in Klagen, Thränen,
Bitten ſchwach geübt, ſo entſteht das Rührende. Man hat an dieſem
Orte häufig überhaupt von dem Werthe und Unwerthe ſchmelzender
Affecte geſprochen. So ſchon Kant (a. a. O. Anm. zu §. 29). Eigentlich
gehört dies nicht hieher, denn das Schmelzende iſt eine Afterform des
Schönen, welche, ſtatt Geiſt und Sinne zugleich zu beglücken und zu be-
freien, mit einem bloſen Scheine geiſtiger Beimiſchung durch wollüſtig hin-
ſinkende Bilder die Sinne kitzelt. Darin liegt aber ein Gefühl der Auf-
löſung, das einer Wehmuth gleicht, einem ſüßen Mitleid mit ſich ſelbſt,
daß man ſich ſo in den bezaubernden Gegenſtand verliere, wie Zucker im
Munde ſchmilzt: dies erinnert an das, was im eigentlichen Sinne
Rührung heißt und hieher gehört. Alles Leiden, auch das des Tapferen
rührt. Aber es rührt nicht blos, es ſtärkt und erhebt zugleich. Rührend
nennt man, was blos rührt, weil es zum Widerſtand ſowohl gegen den
äußern, als gegen den innern Feind, die auflöſende Empfindung, zu
ſchwach iſt, ſo daß nur Thräne, Klage, oder höchſtens die ſanfte kindliche
Bitte bleibt, wie dem Knaben Arthur. Es iſt am Platze, wo hilfloſe
Weſen auftreten, Kinder, Weiber. Dagegen ſteht es Männern ſchlecht an.
Der erfrierende Sigwart iſt ein rührender Mann. Doch vorübergehend
iſt es am Platze, wie z. B. ſelbſt Wallenſtein in ſeiner letzten Stunde im
Andenken an Max Piccolomini weich wird. Je nach dem Zuſammenhang
ſoll aber auch das Weib durch Erhebung ſich ſtark zeigen. Maria Stuart
erhebt ſich im Angeſicht des Todes; die lange Abſchiedsſcene iſt zu
rührend, ſofern ſie trotz der Erhebung zu lang bei der Darſtellung des auf-
löſenden Schmerzes verweilt.

§. 114.

Es kommt nun darauf an, ob die Freiheit gegen den niederſchlagenden
Affect des Leidens ſelbſt einen Affect erhebender Art zum Beiſtande hat, oder
ob ſie ihm in affectloſer Strenge ihre abſtracte Unüberwindlichkeit entgegenhält.
Die erſte Form iſt die ſchwächere, poſitive des negativ Pathetiſchen, die
zweite die negative und ſtärkere, welche aber leicht durch den Schein der Un-
empfindlichkeit ſich vernichtet und nur unter Bedingungen am Platze iſt. Dieſe

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/285>, abgerufen am 07.01.2025.