Unbegrenztes aufgefaßt wird, und über welche hinaus erst die eigentlich negative Form liegt, wovon sogleich zu reden ist. Uebrigens, wenn nun nach der Erwartung einer unendlichen Wirkung doch nur eine im Ausbruche begrenzte und blos in dem allgemeinen Sinn aller Erhabenheit unbegrenzte eintritt, so ist darum der Schrecken nicht geringer: die Er- wartung hat die Empfänglichkeit für den Schrecken geschärft. Wäre freilich ein Mißverhältniß zur Drohung in der Wirkung, so würde das Komische eintreten, was nicht hieher gehört.
§. 100.
1
Die eigentlich negative Form tritt erst ein, wenn die wirkliche Kraft- entwicklung, die zuerst als die größtmögliche erschien, wirklich von einer noch 2höheren Kraft gebrochen wird: das Bild allgemeiner Zerstörung. Dieses Bild steigert, wenn es sich in den Einzelheiten des Zerstörungsprozesses der edeln lebendigen Gestalt unmittelbar den Sinnen aufdrängt, das Häßliche zum Gräß- lichen, welches Lessing als eckelhaftes Schreckliche bestimmt, und dieses ist unter derselben Bedingung, wie das Häßliche überhaupt, im Schönen berechtigt.
1. Bilder des Weltuntergangs, Götterdämmerung u. s. w. Dies sind blos mythische Dichtungen, aber auch in Wirklichkeit drängt sich das Bild einer absoluten Kraft, welcher wirklich keine mehr gewachsen ist, da auf, wo vereinte höchste Anstrengung der Kräfte, die als die höchsten er- schienen, dem Ausbruche eines ungeheuren Uebels erliegt: Pest, Hungers- noth, Verwüstungen durch Erdbeben, Völkerschlachten. Die Zerstörung Jerusalems z. B. ist die Erfüllung des damals vorgestellten Weltunter- gangs. Nun wird zwar in diesen Fällen eine große Kraft nur durch eine andere große und ebenfalls begrenzte zerstört, allein das Ungeheure der Zerstörung übertönt diese Grenze und die Unendlichkeit, welche auch im positiv Erhabenen der Kraft liegt, tritt daher förmlich und aus- drücklich als allgemeine Negativität der sonst bekannten Kräfte in's Bewußtseyn oder Gefühl.
2. Verstümmlung durch Wunden, Eiter, Verwesung u. s. w. Es ist eine Verkehrung des Organismus, welche durch das Ueberwachsen des blos chemischen Prozesses über den ihn beherrschenden organischen das gerade Gegentheil des Schönen erzeugt, welches das Häßliche ist, aber in der unmittelbar apprehensiven Form des Eckelhaften. Beispiele s. bei Lessing a. a. O. Abschn. 25. Das Eckelhafte ist der gefährlichste Feind
Unbegrenztes aufgefaßt wird, und über welche hinaus erſt die eigentlich negative Form liegt, wovon ſogleich zu reden iſt. Uebrigens, wenn nun nach der Erwartung einer unendlichen Wirkung doch nur eine im Ausbruche begrenzte und blos in dem allgemeinen Sinn aller Erhabenheit unbegrenzte eintritt, ſo iſt darum der Schrecken nicht geringer: die Er- wartung hat die Empfänglichkeit für den Schrecken geſchärft. Wäre freilich ein Mißverhältniß zur Drohung in der Wirkung, ſo würde das Komiſche eintreten, was nicht hieher gehört.
§. 100.
1
Die eigentlich negative Form tritt erſt ein, wenn die wirkliche Kraft- entwicklung, die zuerſt als die größtmögliche erſchien, wirklich von einer noch 2höheren Kraft gebrochen wird: das Bild allgemeiner Zerſtörung. Dieſes Bild ſteigert, wenn es ſich in den Einzelheiten des Zerſtörungsprozeſſes der edeln lebendigen Geſtalt unmittelbar den Sinnen aufdrängt, das Häßliche zum Gräß- lichen, welches Leſſing als eckelhaftes Schreckliche beſtimmt, und dieſes iſt unter derſelben Bedingung, wie das Häßliche überhaupt, im Schönen berechtigt.
1. Bilder des Weltuntergangs, Götterdämmerung u. ſ. w. Dies ſind blos mythiſche Dichtungen, aber auch in Wirklichkeit drängt ſich das Bild einer abſoluten Kraft, welcher wirklich keine mehr gewachſen iſt, da auf, wo vereinte höchſte Anſtrengung der Kräfte, die als die höchſten er- ſchienen, dem Ausbruche eines ungeheuren Uebels erliegt: Peſt, Hungers- noth, Verwüſtungen durch Erdbeben, Völkerſchlachten. Die Zerſtörung Jeruſalems z. B. iſt die Erfüllung des damals vorgeſtellten Weltunter- gangs. Nun wird zwar in dieſen Fällen eine große Kraft nur durch eine andere große und ebenfalls begrenzte zerſtört, allein das Ungeheure der Zerſtörung übertönt dieſe Grenze und die Unendlichkeit, welche auch im poſitiv Erhabenen der Kraft liegt, tritt daher förmlich und aus- drücklich als allgemeine Negativität der ſonſt bekannten Kräfte in’s Bewußtſeyn oder Gefühl.
2. Verſtümmlung durch Wunden, Eiter, Verweſung u. ſ. w. Es iſt eine Verkehrung des Organismus, welche durch das Ueberwachſen des blos chemiſchen Prozeſſes über den ihn beherrſchenden organiſchen das gerade Gegentheil des Schönen erzeugt, welches das Häßliche iſt, aber in der unmittelbar apprehenſiven Form des Eckelhaften. Beiſpiele ſ. bei Leſſing a. a. O. Abſchn. 25. Das Eckelhafte iſt der gefährlichſte Feind
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0264"n="250"/>
Unbegrenztes aufgefaßt wird, und über welche hinaus erſt die eigentlich<lb/>
negative Form liegt, wovon ſogleich zu reden iſt. Uebrigens, wenn<lb/>
nun nach der Erwartung einer unendlichen Wirkung doch nur eine im<lb/>
Ausbruche begrenzte und blos in dem allgemeinen Sinn aller Erhabenheit<lb/>
unbegrenzte eintritt, ſo iſt darum der Schrecken nicht geringer: die Er-<lb/>
wartung hat die Empfänglichkeit für den Schrecken geſchärft. Wäre freilich<lb/>
ein Mißverhältniß zur Drohung in der Wirkung, ſo würde das Komiſche<lb/>
eintreten, was nicht hieher gehört.</hi></p></div><lb/><divn="6"><head>§. 100.</head><lb/><noteplace="left"><hirendition="#fr">1</hi></note><p><hirendition="#fr">Die eigentlich negative Form tritt erſt ein, wenn die wirkliche Kraft-<lb/>
entwicklung, die zuerſt als die größtmögliche erſchien, wirklich von einer noch<lb/><noteplace="left">2</note>höheren Kraft gebrochen wird: das Bild allgemeiner Zerſtörung. Dieſes Bild<lb/>ſteigert, wenn es ſich in den Einzelheiten des Zerſtörungsprozeſſes der edeln<lb/>
lebendigen Geſtalt unmittelbar den Sinnen aufdrängt, das Häßliche zum <hirendition="#g">Gräß-<lb/>
lichen</hi>, welches <hirendition="#g">Leſſing</hi> als eckelhaftes Schreckliche beſtimmt, und dieſes iſt unter<lb/>
derſelben Bedingung, wie das Häßliche überhaupt, im Schönen berechtigt.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">1. Bilder des Weltuntergangs, Götterdämmerung u. ſ. w. Dies<lb/>ſind blos mythiſche Dichtungen, aber auch in Wirklichkeit drängt ſich das<lb/>
Bild einer abſoluten Kraft, welcher wirklich keine mehr gewachſen iſt, da<lb/>
auf, wo vereinte höchſte Anſtrengung der Kräfte, die als die höchſten er-<lb/>ſchienen, dem Ausbruche eines ungeheuren Uebels erliegt: Peſt, Hungers-<lb/>
noth, Verwüſtungen durch Erdbeben, Völkerſchlachten. Die Zerſtörung<lb/>
Jeruſalems z. B. iſt die Erfüllung des damals vorgeſtellten Weltunter-<lb/>
gangs. Nun wird zwar in dieſen Fällen eine große Kraft nur durch<lb/>
eine andere große und ebenfalls begrenzte zerſtört, allein das Ungeheure<lb/>
der Zerſtörung übertönt dieſe Grenze und die Unendlichkeit, welche auch<lb/>
im poſitiv Erhabenen der Kraft liegt, tritt daher <hirendition="#g">förmlich</hi> und <hirendition="#g">aus-<lb/>
drücklich</hi> als allgemeine Negativität der ſonſt bekannten Kräfte in’s<lb/>
Bewußtſeyn oder Gefühl.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">2. Verſtümmlung durch Wunden, Eiter, Verweſung u. ſ. w. Es iſt<lb/>
eine Verkehrung des Organismus, welche durch das Ueberwachſen des<lb/>
blos chemiſchen Prozeſſes über den ihn beherrſchenden organiſchen das<lb/>
gerade Gegentheil des Schönen erzeugt, welches das Häßliche iſt, aber in<lb/>
der unmittelbar apprehenſiven Form des Eckelhaften. Beiſpiele ſ. bei<lb/><hirendition="#g">Leſſing</hi> a. a. O. Abſchn. 25. Das Eckelhafte iſt der gefährlichſte Feind<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[250/0264]
Unbegrenztes aufgefaßt wird, und über welche hinaus erſt die eigentlich
negative Form liegt, wovon ſogleich zu reden iſt. Uebrigens, wenn
nun nach der Erwartung einer unendlichen Wirkung doch nur eine im
Ausbruche begrenzte und blos in dem allgemeinen Sinn aller Erhabenheit
unbegrenzte eintritt, ſo iſt darum der Schrecken nicht geringer: die Er-
wartung hat die Empfänglichkeit für den Schrecken geſchärft. Wäre freilich
ein Mißverhältniß zur Drohung in der Wirkung, ſo würde das Komiſche
eintreten, was nicht hieher gehört.
§. 100.
Die eigentlich negative Form tritt erſt ein, wenn die wirkliche Kraft-
entwicklung, die zuerſt als die größtmögliche erſchien, wirklich von einer noch
höheren Kraft gebrochen wird: das Bild allgemeiner Zerſtörung. Dieſes Bild
ſteigert, wenn es ſich in den Einzelheiten des Zerſtörungsprozeſſes der edeln
lebendigen Geſtalt unmittelbar den Sinnen aufdrängt, das Häßliche zum Gräß-
lichen, welches Leſſing als eckelhaftes Schreckliche beſtimmt, und dieſes iſt unter
derſelben Bedingung, wie das Häßliche überhaupt, im Schönen berechtigt.
1. Bilder des Weltuntergangs, Götterdämmerung u. ſ. w. Dies
ſind blos mythiſche Dichtungen, aber auch in Wirklichkeit drängt ſich das
Bild einer abſoluten Kraft, welcher wirklich keine mehr gewachſen iſt, da
auf, wo vereinte höchſte Anſtrengung der Kräfte, die als die höchſten er-
ſchienen, dem Ausbruche eines ungeheuren Uebels erliegt: Peſt, Hungers-
noth, Verwüſtungen durch Erdbeben, Völkerſchlachten. Die Zerſtörung
Jeruſalems z. B. iſt die Erfüllung des damals vorgeſtellten Weltunter-
gangs. Nun wird zwar in dieſen Fällen eine große Kraft nur durch
eine andere große und ebenfalls begrenzte zerſtört, allein das Ungeheure
der Zerſtörung übertönt dieſe Grenze und die Unendlichkeit, welche auch
im poſitiv Erhabenen der Kraft liegt, tritt daher förmlich und aus-
drücklich als allgemeine Negativität der ſonſt bekannten Kräfte in’s
Bewußtſeyn oder Gefühl.
2. Verſtümmlung durch Wunden, Eiter, Verweſung u. ſ. w. Es iſt
eine Verkehrung des Organismus, welche durch das Ueberwachſen des
blos chemiſchen Prozeſſes über den ihn beherrſchenden organiſchen das
gerade Gegentheil des Schönen erzeugt, welches das Häßliche iſt, aber in
der unmittelbar apprehenſiven Form des Eckelhaften. Beiſpiele ſ. bei
Leſſing a. a. O. Abſchn. 25. Das Eckelhafte iſt der gefährlichſte Feind
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/264>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.