Welche Organe der Sinnlichkeit hiebei betheiligt seyen, kann allerdings nicht bestimmt werden, ohne daß gemäß der Bestimmung in §. 54 und 55 vor- ausgesetzt wird, daß das Sinnliche in dem ganzen Acte nur ein Moment ist. Ausgeschlossen nämlich sind diejenigen Sinne, welche durch unmittelbare Be- rührung und Zersetzung den Gegenstand auf die blos sinnliche Lust und Unlust beziehen: Tastsinn, Geruch und Geschmack. Dagegen dringen Gesicht und Gehör als freie und ebensosehr geistige wie sinnliche Organe nicht auf die materielle Zusammensetzung ein, sondern lassen den Gegenstand als Ganzes bestehen und auf sich wirken; er wird als Object frei gegenübergestellt und dieser Gegensatz frei aufgehoben. Daher sind nur diese Sinne zur Aufnahme des Schönen berufen.
Der Tastsinn fordert unmittelbare Berührung, Hingleiten über die Oberfläche mit den Fingerspitzen und so nimmt er Wärme und Kälte, Glätte und Rauheit, Weichheit und Härte u. s. w. wahr. Ich kann so allerdings über die ganze Gestalt hingleiten und mich ihrer Formen und Wendungen versichern, allein ich bekomme nur eine nach der andern, nicht das Ganze; die Wirkung bleibt also stoffartig, was gegen §. 54 und 55 ist. Das Zusammenfassen in Einem Act ist nur Sache des Auges. Wenn der Blinde dennoch durch Tasten sich des Schönen als reiner Form versichern könnte, so müßte, falls er blind geboren ist, ein ahnendes inneres Sehen, falls nicht, eine Erinnerung des Sehens angenommen werden. Weil aber das blose Tasten stoffartig aufnimmt, so bezieht es den Gegenstand sogleich auf die Begierde. Allerdings ist jedoch im Sehen der Tastsinn als ein vergeistigter mitgesetzt, denn wir sehen nicht blos Licht und Farbe, sondern auch Form im engeren Sinn, Art der Textur, selbst Ton der Wärme oder Kälte. Der Gesichtssinn trägt den über sich selbst erhobenen Tastsinn in sich. Ungebildete be- gnügen sich damit nicht, sondern setzen den Tastsinn in seiner ersten Bedeutung aus dem Gesichtssinn heraus und befühlen Statuen und Gemälde.
Der Geruch nimmt seine Stoffe auf, in die sich ein Körper ver- flüchtigt; er ist also auf diesen als einen sich zersetzenden bezogen und so ist auch er durchaus stoffartig, höchst apprehensiv, Neigung und Abneigung rasch bewirkend, und besonders dient er dem Ernährungstriebe. Allerdings hat er auch eine feinere Bedeutung; gewisse Wohlgerüche rufen Bilder
§. 71.
Welche Organe der Sinnlichkeit hiebei betheiligt ſeyen, kann allerdings nicht beſtimmt werden, ohne daß gemäß der Beſtimmung in §. 54 und 55 vor- ausgeſetzt wird, daß das Sinnliche in dem ganzen Acte nur ein Moment iſt. Ausgeſchloſſen nämlich ſind diejenigen Sinne, welche durch unmittelbare Be- rührung und Zerſetzung den Gegenſtand auf die blos ſinnliche Luſt und Unluſt beziehen: Taſtſinn, Geruch und Geſchmack. Dagegen dringen Geſicht und Gehör als freie und ebenſoſehr geiſtige wie ſinnliche Organe nicht auf die materielle Zuſammenſetzung ein, ſondern laſſen den Gegenſtand als Ganzes beſtehen und auf ſich wirken; er wird als Object frei gegenübergeſtellt und dieſer Gegenſatz frei aufgehoben. Daher ſind nur dieſe Sinne zur Aufnahme des Schönen berufen.
Der Taſtſinn fordert unmittelbare Berührung, Hingleiten über die Oberfläche mit den Fingerſpitzen und ſo nimmt er Wärme und Kälte, Glätte und Rauheit, Weichheit und Härte u. ſ. w. wahr. Ich kann ſo allerdings über die ganze Geſtalt hingleiten und mich ihrer Formen und Wendungen verſichern, allein ich bekomme nur eine nach der andern, nicht das Ganze; die Wirkung bleibt alſo ſtoffartig, was gegen §. 54 und 55 iſt. Das Zuſammenfaſſen in Einem Act iſt nur Sache des Auges. Wenn der Blinde dennoch durch Taſten ſich des Schönen als reiner Form verſichern könnte, ſo müßte, falls er blind geboren iſt, ein ahnendes inneres Sehen, falls nicht, eine Erinnerung des Sehens angenommen werden. Weil aber das bloſe Taſten ſtoffartig aufnimmt, ſo bezieht es den Gegenſtand ſogleich auf die Begierde. Allerdings iſt jedoch im Sehen der Taſtſinn als ein vergeiſtigter mitgeſetzt, denn wir ſehen nicht blos Licht und Farbe, ſondern auch Form im engeren Sinn, Art der Textur, ſelbſt Ton der Wärme oder Kälte. Der Geſichtsſinn trägt den über ſich ſelbſt erhobenen Taſtſinn in ſich. Ungebildete be- gnügen ſich damit nicht, ſondern ſetzen den Taſtſinn in ſeiner erſten Bedeutung aus dem Geſichtsſinn heraus und befühlen Statuen und Gemälde.
Der Geruch nimmt ſeine Stoffe auf, in die ſich ein Körper ver- flüchtigt; er iſt alſo auf dieſen als einen ſich zerſetzenden bezogen und ſo iſt auch er durchaus ſtoffartig, höchſt apprehenſiv, Neigung und Abneigung raſch bewirkend, und beſonders dient er dem Ernährungstriebe. Allerdings hat er auch eine feinere Bedeutung; gewiſſe Wohlgerüche rufen Bilder
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0195"n="181"/><divn="4"><head>§. 71.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Welche Organe der Sinnlichkeit hiebei betheiligt ſeyen, kann allerdings<lb/>
nicht beſtimmt werden, ohne daß gemäß der Beſtimmung in §. 54 und 55 vor-<lb/>
ausgeſetzt wird, daß das Sinnliche in dem ganzen Acte nur ein Moment iſt.<lb/>
Ausgeſchloſſen nämlich ſind diejenigen Sinne, welche durch unmittelbare Be-<lb/>
rührung und Zerſetzung den Gegenſtand auf die blos ſinnliche Luſt und Unluſt<lb/>
beziehen: Taſtſinn, Geruch und Geſchmack. Dagegen dringen Geſicht und Gehör<lb/>
als freie und ebenſoſehr geiſtige wie ſinnliche Organe nicht auf die materielle<lb/>
Zuſammenſetzung ein, ſondern laſſen den Gegenſtand als Ganzes beſtehen und<lb/>
auf ſich wirken; er wird als Object frei gegenübergeſtellt und dieſer Gegenſatz<lb/>
frei aufgehoben. Daher ſind nur dieſe Sinne zur Aufnahme des Schönen<lb/>
berufen.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Der <hirendition="#g">Taſtſinn</hi> fordert unmittelbare Berührung, Hingleiten über die<lb/>
Oberfläche mit den Fingerſpitzen und ſo nimmt er Wärme und Kälte,<lb/>
Glätte und Rauheit, Weichheit und Härte u. ſ. w. wahr. Ich kann ſo<lb/>
allerdings über die ganze Geſtalt hingleiten und mich ihrer Formen und<lb/>
Wendungen verſichern, allein ich bekomme nur eine nach der andern,<lb/>
nicht das Ganze; die Wirkung bleibt alſo ſtoffartig, was gegen §. 54<lb/>
und 55 iſt. Das Zuſammenfaſſen in Einem Act iſt nur Sache des<lb/>
Auges. Wenn der Blinde dennoch durch Taſten ſich des Schönen als<lb/>
reiner Form verſichern könnte, ſo müßte, falls er blind geboren iſt, ein<lb/>
ahnendes inneres Sehen, falls nicht, eine Erinnerung des Sehens<lb/>
angenommen werden. Weil aber das bloſe Taſten ſtoffartig aufnimmt,<lb/>ſo bezieht es den Gegenſtand ſogleich auf die Begierde. Allerdings iſt<lb/>
jedoch im Sehen der Taſtſinn als ein vergeiſtigter mitgeſetzt, denn wir<lb/>ſehen nicht blos Licht und Farbe, ſondern auch Form im engeren Sinn,<lb/>
Art der Textur, ſelbſt Ton der Wärme oder Kälte. Der Geſichtsſinn<lb/>
trägt den über ſich ſelbſt erhobenen Taſtſinn in ſich. Ungebildete be-<lb/>
gnügen ſich damit nicht, ſondern ſetzen den Taſtſinn in ſeiner erſten<lb/>
Bedeutung aus dem Geſichtsſinn heraus und befühlen Statuen und<lb/>
Gemälde.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Der <hirendition="#g">Geruch</hi> nimmt ſeine Stoffe auf, in die ſich ein Körper ver-<lb/>
flüchtigt; er iſt alſo auf dieſen als einen ſich zerſetzenden bezogen und ſo<lb/>
iſt auch er durchaus ſtoffartig, höchſt apprehenſiv, Neigung und Abneigung<lb/>
raſch bewirkend, und beſonders dient er dem Ernährungstriebe. Allerdings<lb/>
hat er auch eine feinere Bedeutung; gewiſſe Wohlgerüche rufen Bilder<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[181/0195]
§. 71.
Welche Organe der Sinnlichkeit hiebei betheiligt ſeyen, kann allerdings
nicht beſtimmt werden, ohne daß gemäß der Beſtimmung in §. 54 und 55 vor-
ausgeſetzt wird, daß das Sinnliche in dem ganzen Acte nur ein Moment iſt.
Ausgeſchloſſen nämlich ſind diejenigen Sinne, welche durch unmittelbare Be-
rührung und Zerſetzung den Gegenſtand auf die blos ſinnliche Luſt und Unluſt
beziehen: Taſtſinn, Geruch und Geſchmack. Dagegen dringen Geſicht und Gehör
als freie und ebenſoſehr geiſtige wie ſinnliche Organe nicht auf die materielle
Zuſammenſetzung ein, ſondern laſſen den Gegenſtand als Ganzes beſtehen und
auf ſich wirken; er wird als Object frei gegenübergeſtellt und dieſer Gegenſatz
frei aufgehoben. Daher ſind nur dieſe Sinne zur Aufnahme des Schönen
berufen.
Der Taſtſinn fordert unmittelbare Berührung, Hingleiten über die
Oberfläche mit den Fingerſpitzen und ſo nimmt er Wärme und Kälte,
Glätte und Rauheit, Weichheit und Härte u. ſ. w. wahr. Ich kann ſo
allerdings über die ganze Geſtalt hingleiten und mich ihrer Formen und
Wendungen verſichern, allein ich bekomme nur eine nach der andern,
nicht das Ganze; die Wirkung bleibt alſo ſtoffartig, was gegen §. 54
und 55 iſt. Das Zuſammenfaſſen in Einem Act iſt nur Sache des
Auges. Wenn der Blinde dennoch durch Taſten ſich des Schönen als
reiner Form verſichern könnte, ſo müßte, falls er blind geboren iſt, ein
ahnendes inneres Sehen, falls nicht, eine Erinnerung des Sehens
angenommen werden. Weil aber das bloſe Taſten ſtoffartig aufnimmt,
ſo bezieht es den Gegenſtand ſogleich auf die Begierde. Allerdings iſt
jedoch im Sehen der Taſtſinn als ein vergeiſtigter mitgeſetzt, denn wir
ſehen nicht blos Licht und Farbe, ſondern auch Form im engeren Sinn,
Art der Textur, ſelbſt Ton der Wärme oder Kälte. Der Geſichtsſinn
trägt den über ſich ſelbſt erhobenen Taſtſinn in ſich. Ungebildete be-
gnügen ſich damit nicht, ſondern ſetzen den Taſtſinn in ſeiner erſten
Bedeutung aus dem Geſichtsſinn heraus und befühlen Statuen und
Gemälde.
Der Geruch nimmt ſeine Stoffe auf, in die ſich ein Körper ver-
flüchtigt; er iſt alſo auf dieſen als einen ſich zerſetzenden bezogen und ſo
iſt auch er durchaus ſtoffartig, höchſt apprehenſiv, Neigung und Abneigung
raſch bewirkend, und beſonders dient er dem Ernährungstriebe. Allerdings
hat er auch eine feinere Bedeutung; gewiſſe Wohlgerüche rufen Bilder
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/195>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.