Sichtbare gehe, da doch zum Schönen auch Musik und Poesie gehöre. Man laße sich zunächst die Zurechtlegung gefallen, daß im Tone etwas wirkt, was den im Raume bildenden Gesetzen geheimnißvoll verwandt ist, und daß in der Poesie das Sichtbare als inneres Bild wiederkehrt. Das weitere System wird diesen wichtigen Punkt gründlich beleuchten.
§. 36.
1
Zu weit ist die Bestimmung des Plato und Aristoteles, daß das Schöne bestehe in einer Einheit des Mannigfaltigen, welche sich durch Ordnung, Ebenmaß und Begrenzung ausdrücke. Allerdings wird sich die Gegenwart der Idee im Körper als eine solche organische Einheit äußern, aber es gilt dieß nicht blos von dem Schönen; dieses wird sich vielmehr durch eine besondere Art des Einklangs vom Einklang anderer Art unterscheiden. Daher ist diese Bestimmung ebensosehr zu eng, weil zum Schönen mehr gehört, als sie enthält. Die nähere Angabe des Aristoteles, daß das Schöne um der Ueberschau- lichkeit willen ein gewisses Maß von Größe haben müße, ist richtig und 2wesentlich, aber ganz unbestimmt. Dagegen stellten englische Sensualisten ein bestimmtes Maß, bestimmte Linien, Arten der Oberfläche u. s. w. als Merkmal und Richtschnur des Schönen auf und geriethen dadurch in den ent- gegengesetzten Fehler einer zu engen Bestimmung, die aber ebenso zugleich zu weit ist, weil sie auch auf Anderes, als das Schöne paßt.
1. Dem Plato und Aristoteles kann nicht vorgeworfen werden, daß sie das Schöne vermessen zu können meinten; sie suchten eine geistige Einheit in demselben. Plato sagt ausdrücklich, es sey die Idee, welche in das Mannigfaltige Einheit bringe, Aristoteles hat bekanntlich vor Allem die Tragödie im Auge, und die Einheit ist hier die Handlung, die Handlung aber Verwirklichung einer Idee, also auch hier ist wenigstens mittelbar die Idee als Grund dieser Einheit aufgestellt. Allein beide haben nirgends das Wort für die spezifische Art der Durchdringung des Stoffes durch die Idee, welche das Schöne bedingt, gefunden, wie dieselbe unter dem folg. Absch. C. darzustellen ist; daher geschieht es ihnen dennoch, daß sie das einmal zwar von dem inneren Grunde der begrenzenden Einheit ausgehen, das andremal aber diese, die Begrenzung des Stoffes zur Einheit des Ganzen, für die Sache selbst ausgeben. Ihnen fehlt die Mitte: nämlich eben die spezifische Art des durch die Idee bedingten Einklangs im Schönen. Es giebt ja Arten von Einklang,
Sichtbare gehe, da doch zum Schönen auch Muſik und Poeſie gehöre. Man laße ſich zunächſt die Zurechtlegung gefallen, daß im Tone etwas wirkt, was den im Raume bildenden Geſetzen geheimnißvoll verwandt iſt, und daß in der Poeſie das Sichtbare als inneres Bild wiederkehrt. Das weitere Syſtem wird dieſen wichtigen Punkt gründlich beleuchten.
§. 36.
1
Zu weit iſt die Beſtimmung des Plato und Ariſtoteles, daß das Schöne beſtehe in einer Einheit des Mannigfaltigen, welche ſich durch Ordnung, Ebenmaß und Begrenzung ausdrücke. Allerdings wird ſich die Gegenwart der Idee im Körper als eine ſolche organiſche Einheit äußern, aber es gilt dieß nicht blos von dem Schönen; dieſes wird ſich vielmehr durch eine beſondere Art des Einklangs vom Einklang anderer Art unterſcheiden. Daher iſt dieſe Beſtimmung ebenſoſehr zu eng, weil zum Schönen mehr gehört, als ſie enthält. Die nähere Angabe des Ariſtoteles, daß das Schöne um der Ueberſchau- lichkeit willen ein gewiſſes Maß von Größe haben müße, iſt richtig und 2weſentlich, aber ganz unbeſtimmt. Dagegen ſtellten engliſche Senſualiſten ein beſtimmtes Maß, beſtimmte Linien, Arten der Oberfläche u. ſ. w. als Merkmal und Richtſchnur des Schönen auf und geriethen dadurch in den ent- gegengeſetzten Fehler einer zu engen Beſtimmung, die aber ebenſo zugleich zu weit iſt, weil ſie auch auf Anderes, als das Schöne paßt.
1. Dem Plato und Ariſtoteles kann nicht vorgeworfen werden, daß ſie das Schöne vermeſſen zu können meinten; ſie ſuchten eine geiſtige Einheit in demſelben. Plato ſagt ausdrücklich, es ſey die Idee, welche in das Mannigfaltige Einheit bringe, Ariſtoteles hat bekanntlich vor Allem die Tragödie im Auge, und die Einheit iſt hier die Handlung, die Handlung aber Verwirklichung einer Idee, alſo auch hier iſt wenigſtens mittelbar die Idee als Grund dieſer Einheit aufgeſtellt. Allein beide haben nirgends das Wort für die ſpezifiſche Art der Durchdringung des Stoffes durch die Idee, welche das Schöne bedingt, gefunden, wie dieſelbe unter dem folg. Abſch. C. darzuſtellen iſt; daher geſchieht es ihnen dennoch, daß ſie das einmal zwar von dem inneren Grunde der begrenzenden Einheit ausgehen, das andremal aber dieſe, die Begrenzung des Stoffes zur Einheit des Ganzen, für die Sache ſelbſt ausgeben. Ihnen fehlt die Mitte: nämlich eben die ſpezifiſche Art des durch die Idee bedingten Einklangs im Schönen. Es giebt ja Arten von Einklang,
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Sichtbare gehe, da doch zum Schönen auch Muſik und Poeſie gehöre.
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wirkt, was den im Raume bildenden Geſetzen geheimnißvoll verwandt iſt,
und daß in der Poeſie das Sichtbare als inneres Bild wiederkehrt. Das
weitere Syſtem wird dieſen wichtigen Punkt gründlich beleuchten.
§. 36.
Zu weit iſt die Beſtimmung des Plato und Ariſtoteles, daß das
Schöne beſtehe in einer Einheit des Mannigfaltigen, welche ſich durch Ordnung,
Ebenmaß und Begrenzung ausdrücke. Allerdings wird ſich die Gegenwart der
Idee im Körper als eine ſolche organiſche Einheit äußern, aber es gilt dieß
nicht blos von dem Schönen; dieſes wird ſich vielmehr durch eine beſondere
Art des Einklangs vom Einklang anderer Art unterſcheiden. Daher iſt dieſe
Beſtimmung ebenſoſehr zu eng, weil zum Schönen mehr gehört, als ſie enthält.
Die nähere Angabe des Ariſtoteles, daß das Schöne um der Ueberſchau-
lichkeit willen ein gewiſſes Maß von Größe haben müße, iſt richtig und
weſentlich, aber ganz unbeſtimmt. Dagegen ſtellten engliſche Senſualiſten
ein beſtimmtes Maß, beſtimmte Linien, Arten der Oberfläche u. ſ. w. als
Merkmal und Richtſchnur des Schönen auf und geriethen dadurch in den ent-
gegengeſetzten Fehler einer zu engen Beſtimmung, die aber ebenſo zugleich zu
weit iſt, weil ſie auch auf Anderes, als das Schöne paßt.
1. Dem Plato und Ariſtoteles kann nicht vorgeworfen werden,
daß ſie das Schöne vermeſſen zu können meinten; ſie ſuchten eine geiſtige
Einheit in demſelben. Plato ſagt ausdrücklich, es ſey die Idee, welche
in das Mannigfaltige Einheit bringe, Ariſtoteles hat bekanntlich vor
Allem die Tragödie im Auge, und die Einheit iſt hier die Handlung, die
Handlung aber Verwirklichung einer Idee, alſo auch hier iſt wenigſtens
mittelbar die Idee als Grund dieſer Einheit aufgeſtellt. Allein beide
haben nirgends das Wort für die ſpezifiſche Art der Durchdringung des
Stoffes durch die Idee, welche das Schöne bedingt, gefunden, wie
dieſelbe unter dem folg. Abſch. C. darzuſtellen iſt; daher geſchieht es
ihnen dennoch, daß ſie das einmal zwar von dem inneren Grunde der
begrenzenden Einheit ausgehen, das andremal aber dieſe, die Begrenzung
des Stoffes zur Einheit des Ganzen, für die Sache ſelbſt ausgeben.
Ihnen fehlt die Mitte: nämlich eben die ſpezifiſche Art des durch die
Idee bedingten Einklangs im Schönen. Es giebt ja Arten von Einklang,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/112>, abgerufen am 21.12.2024.
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