Das Individuum ist zufällig, d. h. die Gattung kann sich zwar nur durch die Reihe ihrer Individuen verwirklichen, aber wann und wo ein solches entstehe, ist durch die Gattung allein nicht bestimmt, sondern durch ein Zusammentreffen von Bedingungen, welche aus dem gleichzeitigen Zusammenseyn der einen Gat- tung mit allen andern fließen.
Der Begriff der Zufälligkeit ist wesentlich im Schönen. Man hüte sich, hier und in der zunächstfolgenden weiteren Ausführung dieses Be- griffs schon an diejenige Art der Zufälligkeit zu denken, welche das Schöne, wie es außer der Kunst existirt, trübt und durch diese zu tilgen ist. Davon muß an seinem Orte ausdrücklich erst die Rede werden. Vielmehr erinnere man sich vorläufig, daß auch im Ideal die Zufällig- keit, von der hier die Rede ist, erhalten seyn muß. Das ächte Drama z. B. behandelt eine wahre und nur etwa von der Sage vorher schon erhöhte Begebenheit, welche die Zufälligkeit der Jahreszahl, des be- stimmten Ortes u. s. w. an sich trägt; seine Personen müssen den Eindruck machen, daß sie einmal leben konnten unter allen den zufälligen Umständen, die dazu mitwirken, daß dieses oder jenes Individuum jetzt und nicht ein andermal entsteht oder auf den Schauplatz seines Handelns hervortritt.
§. 32.
Diese Bedingungen treffen in jedem einzelnen Falle der Entstehung eines Individuums in so unberechenbarer Weise zusammen, daß eine unendliche Ver- schiedenheit die Individuen derselben Gattung von einander trennt. Die Zu- fälligkeit der Entstehung ist also der Grund einer weiteren Zufälligkeit, der unendlichen Eigenheit des Individuums.
Es darf nicht befremden, daß die Eigenthümlichkeit des Individuums hier vom Zufalle der Entstehung abgeleitet wird, und wenn dies in seiner Anwendung auf den Menschen härter klingen sollte, als auf die Physiognomie bestimmter Landschaften, auf Pflanzen und Thiere, so ver- gesse man nicht, daß hier erst von der einen Hälfte, der Naturbasis die Rede ist und daß jene eigenthümliche Mischung zum Vorzüglichen erst wird, wenn das Allgemeine, das Gattungsmäßige, was hier der Geist ist, sich mit derselben durchdringt. Die nothwendige Trennung der Wissenschaft bringt es aber mit sich, daß diese Durchdringung erst
§. 31.
Das Individuum iſt zufällig, d. h. die Gattung kann ſich zwar nur durch die Reihe ihrer Individuen verwirklichen, aber wann und wo ein ſolches entſtehe, iſt durch die Gattung allein nicht beſtimmt, ſondern durch ein Zuſammentreffen von Bedingungen, welche aus dem gleichzeitigen Zuſammenſeyn der einen Gat- tung mit allen andern fließen.
Der Begriff der Zufälligkeit iſt weſentlich im Schönen. Man hüte ſich, hier und in der zunächſtfolgenden weiteren Ausführung dieſes Be- griffs ſchon an diejenige Art der Zufälligkeit zu denken, welche das Schöne, wie es außer der Kunſt exiſtirt, trübt und durch dieſe zu tilgen iſt. Davon muß an ſeinem Orte ausdrücklich erſt die Rede werden. Vielmehr erinnere man ſich vorläufig, daß auch im Ideal die Zufällig- keit, von der hier die Rede iſt, erhalten ſeyn muß. Das ächte Drama z. B. behandelt eine wahre und nur etwa von der Sage vorher ſchon erhöhte Begebenheit, welche die Zufälligkeit der Jahreszahl, des be- ſtimmten Ortes u. ſ. w. an ſich trägt; ſeine Perſonen müſſen den Eindruck machen, daß ſie einmal leben konnten unter allen den zufälligen Umſtänden, die dazu mitwirken, daß dieſes oder jenes Individuum jetzt und nicht ein andermal entſteht oder auf den Schauplatz ſeines Handelns hervortritt.
§. 32.
Dieſe Bedingungen treffen in jedem einzelnen Falle der Entſtehung eines Individuums in ſo unberechenbarer Weiſe zuſammen, daß eine unendliche Ver- ſchiedenheit die Individuen derſelben Gattung von einander trennt. Die Zu- fälligkeit der Entſtehung iſt alſo der Grund einer weiteren Zufälligkeit, der unendlichen Eigenheit des Individuums.
Es darf nicht befremden, daß die Eigenthümlichkeit des Individuums hier vom Zufalle der Entſtehung abgeleitet wird, und wenn dies in ſeiner Anwendung auf den Menſchen härter klingen ſollte, als auf die Phyſiognomie beſtimmter Landſchaften, auf Pflanzen und Thiere, ſo ver- geſſe man nicht, daß hier erſt von der einen Hälfte, der Naturbaſis die Rede iſt und daß jene eigenthümliche Miſchung zum Vorzüglichen erſt wird, wenn das Allgemeine, das Gattungsmäßige, was hier der Geiſt iſt, ſich mit derſelben durchdringt. Die nothwendige Trennung der Wiſſenſchaft bringt es aber mit ſich, daß dieſe Durchdringung erſt
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§. 31.
Das Individuum iſt zufällig, d. h. die Gattung kann ſich zwar nur durch
die Reihe ihrer Individuen verwirklichen, aber wann und wo ein ſolches entſtehe,
iſt durch die Gattung allein nicht beſtimmt, ſondern durch ein Zuſammentreffen
von Bedingungen, welche aus dem gleichzeitigen Zuſammenſeyn der einen Gat-
tung mit allen andern fließen.
Der Begriff der Zufälligkeit iſt weſentlich im Schönen. Man hüte
ſich, hier und in der zunächſtfolgenden weiteren Ausführung dieſes Be-
griffs ſchon an diejenige Art der Zufälligkeit zu denken, welche das
Schöne, wie es außer der Kunſt exiſtirt, trübt und durch dieſe zu tilgen
iſt. Davon muß an ſeinem Orte ausdrücklich erſt die Rede werden.
Vielmehr erinnere man ſich vorläufig, daß auch im Ideal die Zufällig-
keit, von der hier die Rede iſt, erhalten ſeyn muß. Das ächte Drama
z. B. behandelt eine wahre und nur etwa von der Sage vorher ſchon
erhöhte Begebenheit, welche die Zufälligkeit der Jahreszahl, des be-
ſtimmten Ortes u. ſ. w. an ſich trägt; ſeine Perſonen müſſen den Eindruck
machen, daß ſie einmal leben konnten unter allen den zufälligen Umſtänden,
die dazu mitwirken, daß dieſes oder jenes Individuum jetzt und nicht
ein andermal entſteht oder auf den Schauplatz ſeines Handelns hervortritt.
§. 32.
Dieſe Bedingungen treffen in jedem einzelnen Falle der Entſtehung eines
Individuums in ſo unberechenbarer Weiſe zuſammen, daß eine unendliche Ver-
ſchiedenheit die Individuen derſelben Gattung von einander trennt. Die Zu-
fälligkeit der Entſtehung iſt alſo der Grund einer weiteren Zufälligkeit, der
unendlichen Eigenheit des Individuums.
Es darf nicht befremden, daß die Eigenthümlichkeit des Individuums
hier vom Zufalle der Entſtehung abgeleitet wird, und wenn dies in
ſeiner Anwendung auf den Menſchen härter klingen ſollte, als auf die
Phyſiognomie beſtimmter Landſchaften, auf Pflanzen und Thiere, ſo ver-
geſſe man nicht, daß hier erſt von der einen Hälfte, der Naturbaſis
die Rede iſt und daß jene eigenthümliche Miſchung zum Vorzüglichen
erſt wird, wenn das Allgemeine, das Gattungsmäßige, was hier der
Geiſt iſt, ſich mit derſelben durchdringt. Die nothwendige Trennung
der Wiſſenſchaft bringt es aber mit ſich, daß dieſe Durchdringung erſt
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/108>, abgerufen am 21.12.2024.
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