Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

heimsten Welthändeln bewirken, stören und erzeugen; noch
weniger aber beachtet man, wie Liebesverhältnisse durch Ehr-
geiz, Staatsverhältniß, Stellung der Gesellschaft überhaupt,
modifizirt, sogar öfters nur allein begründet werden.



Zu stolz auf unsre Gemüthsstimmungen, halten wir jede
davon sich unmittelbar auf das Beste in uns beziehend; auch
denken wir, die Welt und ihren Verkehr willentlich zu regie-
ren; und sie regiert uns Alle: und die, welche am meisten
von ihr verstehen, am gewissesten. Ungeschickte, Blinde, die
nur zwei Augen haben, und nicht besäet damit sind, gehen
hren Weg seitwärts ab; und glauben, sie sind im Strom,
weil sie ihn nie erkannten, und nicht wissen, wo er ist. Un-
geheuer Fromme müssen wohl kein Bild der Welt gebrauchen;
oder eins haben, welches ich nicht kenne; sie sehen grad nach
oben, wo ich nichts als Sterne sehe, wenn's hell ist. Wis-
senschaftliche Menschen bearbeiten Einen Geistesstrahl; hin-
geführt bis zur allgemeinen Sonne des Wissens. Die, welche
Natur, Leben, Welt, den Geist mit Gewalt verstehen wollen,
und darin gar nicht nachgeben und sich ergeben, oder Einem
Gegenstande der Natur oder Welt nur leben wollen, sind
die Tollen. -- Ja, die ihrer Überzeugung, und wäre es auch
der edelsten, trotz des Stromes leben wollen, sind schon von
den Andern für toll gehalten: J. J. Rousseau. Nicht umsonst
ist es so schwer, die Natur des Menschengeistes, sein noth-
gezwungenes Wollen, unsere leibliche und seelische Persön-
lichkeit, ihre Stellung zur ganzen Natur und zu der Men-
schenwelt, zu unterscheiden, und darin wieder der Andern Per-

heimſten Welthändeln bewirken, ſtören und erzeugen; noch
weniger aber beachtet man, wie Liebesverhältniſſe durch Ehr-
geiz, Staatsverhältniß, Stellung der Geſellſchaft überhaupt,
modifizirt, ſogar öfters nur allein begründet werden.



Zu ſtolz auf unſre Gemüthsſtimmungen, halten wir jede
davon ſich unmittelbar auf das Beſte in uns beziehend; auch
denken wir, die Welt und ihren Verkehr willentlich zu regie-
ren; und ſie regiert uns Alle: und die, welche am meiſten
von ihr verſtehen, am gewiſſeſten. Ungeſchickte, Blinde, die
nur zwei Augen haben, und nicht beſäet damit ſind, gehen
hren Weg ſeitwärts ab; und glauben, ſie ſind im Strom,
weil ſie ihn nie erkannten, und nicht wiſſen, wo er iſt. Un-
geheuer Fromme müſſen wohl kein Bild der Welt gebrauchen;
oder eins haben, welches ich nicht kenne; ſie ſehen grad nach
oben, wo ich nichts als Sterne ſehe, wenn’s hell iſt. Wiſ-
ſenſchaftliche Menſchen bearbeiten Einen Geiſtesſtrahl; hin-
geführt bis zur allgemeinen Sonne des Wiſſens. Die, welche
Natur, Leben, Welt, den Geiſt mit Gewalt verſtehen wollen,
und darin gar nicht nachgeben und ſich ergeben, oder Einem
Gegenſtande der Natur oder Welt nur leben wollen, ſind
die Tollen. — Ja, die ihrer Überzeugung, und wäre es auch
der edelſten, trotz des Stromes leben wollen, ſind ſchon von
den Andern für toll gehalten: J. J. Rouſſeau. Nicht umſonſt
iſt es ſo ſchwer, die Natur des Menſchengeiſtes, ſein noth-
gezwungenes Wollen, unſere leibliche und ſeeliſche Perſön-
lichkeit, ihre Stellung zur ganzen Natur und zu der Men-
ſchenwelt, zu unterſcheiden, und darin wieder der Andern Per-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0066" n="58"/>
heim&#x017F;ten Welthändeln bewirken, &#x017F;tören und erzeugen; noch<lb/>
weniger aber beachtet man, wie Liebesverhältni&#x017F;&#x017F;e durch Ehr-<lb/>
geiz, Staatsverhältniß, Stellung der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft überhaupt,<lb/>
modifizirt, &#x017F;ogar öfters nur allein begründet werden.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <p>Zu &#x017F;tolz auf un&#x017F;re Gemüths&#x017F;timmungen, halten wir jede<lb/>
davon &#x017F;ich unmittelbar auf das Be&#x017F;te in uns beziehend; auch<lb/>
denken wir, die Welt und ihren Verkehr willentlich zu regie-<lb/>
ren; und &#x017F;ie regiert uns Alle: und die, welche am mei&#x017F;ten<lb/>
von ihr ver&#x017F;tehen, am gewi&#x017F;&#x017F;e&#x017F;ten. Unge&#x017F;chickte, Blinde, die<lb/>
nur zwei Augen haben, und nicht be&#x017F;äet damit &#x017F;ind, gehen<lb/>
hren Weg &#x017F;eitwärts ab; und glauben, &#x017F;ie &#x017F;ind im Strom,<lb/>
weil &#x017F;ie ihn nie erkannten, und nicht wi&#x017F;&#x017F;en, wo er i&#x017F;t. Un-<lb/>
geheuer Fromme mü&#x017F;&#x017F;en wohl kein Bild der Welt gebrauchen;<lb/>
oder eins haben, welches ich nicht kenne; &#x017F;ie &#x017F;ehen grad nach<lb/>
oben, wo ich nichts als Sterne &#x017F;ehe, wenn&#x2019;s hell i&#x017F;t. Wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;chaftliche Men&#x017F;chen bearbeiten Einen Gei&#x017F;tes&#x017F;trahl; hin-<lb/>
geführt bis zur allgemeinen Sonne des Wi&#x017F;&#x017F;ens. Die, welche<lb/>
Natur, Leben, Welt, den Gei&#x017F;t mit Gewalt ver&#x017F;tehen wollen,<lb/>
und darin gar nicht nachgeben und &#x017F;ich ergeben, oder Einem<lb/>
Gegen&#x017F;tande der Natur oder Welt nur leben wollen, &#x017F;ind<lb/>
die Tollen. &#x2014; Ja, die ihrer Überzeugung, und wäre es auch<lb/>
der edel&#x017F;ten, trotz des Stromes leben wollen, &#x017F;ind &#x017F;chon von<lb/>
den Andern für toll gehalten: J. J. Rou&#x017F;&#x017F;eau. Nicht um&#x017F;on&#x017F;t<lb/>
i&#x017F;t es &#x017F;o &#x017F;chwer, die Natur des Men&#x017F;chengei&#x017F;tes, &#x017F;ein noth-<lb/>
gezwungenes Wollen, un&#x017F;ere leibliche und &#x017F;eeli&#x017F;che Per&#x017F;ön-<lb/>
lichkeit, ihre Stellung zur ganzen Natur und zu der Men-<lb/>
&#x017F;chenwelt, zu unter&#x017F;cheiden, und darin wieder der Andern Per-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0066] heimſten Welthändeln bewirken, ſtören und erzeugen; noch weniger aber beachtet man, wie Liebesverhältniſſe durch Ehr- geiz, Staatsverhältniß, Stellung der Geſellſchaft überhaupt, modifizirt, ſogar öfters nur allein begründet werden. Zu ſtolz auf unſre Gemüthsſtimmungen, halten wir jede davon ſich unmittelbar auf das Beſte in uns beziehend; auch denken wir, die Welt und ihren Verkehr willentlich zu regie- ren; und ſie regiert uns Alle: und die, welche am meiſten von ihr verſtehen, am gewiſſeſten. Ungeſchickte, Blinde, die nur zwei Augen haben, und nicht beſäet damit ſind, gehen hren Weg ſeitwärts ab; und glauben, ſie ſind im Strom, weil ſie ihn nie erkannten, und nicht wiſſen, wo er iſt. Un- geheuer Fromme müſſen wohl kein Bild der Welt gebrauchen; oder eins haben, welches ich nicht kenne; ſie ſehen grad nach oben, wo ich nichts als Sterne ſehe, wenn’s hell iſt. Wiſ- ſenſchaftliche Menſchen bearbeiten Einen Geiſtesſtrahl; hin- geführt bis zur allgemeinen Sonne des Wiſſens. Die, welche Natur, Leben, Welt, den Geiſt mit Gewalt verſtehen wollen, und darin gar nicht nachgeben und ſich ergeben, oder Einem Gegenſtande der Natur oder Welt nur leben wollen, ſind die Tollen. — Ja, die ihrer Überzeugung, und wäre es auch der edelſten, trotz des Stromes leben wollen, ſind ſchon von den Andern für toll gehalten: J. J. Rouſſeau. Nicht umſonſt iſt es ſo ſchwer, die Natur des Menſchengeiſtes, ſein noth- gezwungenes Wollen, unſere leibliche und ſeeliſche Perſön- lichkeit, ihre Stellung zur ganzen Natur und zu der Men- ſchenwelt, zu unterſcheiden, und darin wieder der Andern Per-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/66
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/66>, abgerufen am 20.11.2024.