Künftigen Sommer können Sie mich mit ihm im südlichen Deutschland besuchen.
Adieu bis dahin! Ihre Fr. V.
An Oelsner, in Paris.
Berlin, Donnerstag Abend 10 Uhr, den 27. December 1821.
Es ist hier noch immer Thauwetter, ohne gefroren zu ha- ben; Einmal den 8. dieses fiel Schnee, der nicht liegen blieb; alle Mittag giebt sich die Sonne Mühe; die Sterne des Abends; man sieht sie. "Italien!" schreien die Leute: sie meinen das Wetter.
Sie haben mir gesagt, wie Sie meine Wetternotizen fin- den: ich will Ihnen sagen, warum ich sie mache. Grad aus dem entgegengesetzten Grund, aus welchem die Chemiker es thun, von denen Sie mir sprechen. Diese wollen die Methode mit daraus bilden, nach der sie zu verfahren gedenken: ich aber will, daß es mir helfe meine unmethodische Verfahrungs- art zu entschuldigen. Das Wetter hilft die ganze Situation des Tages machen, ja sie besteht zum Theil daraus; und hat nun mein Leser die Physionomie -- ich bilde mir ein, es phy- sionomisch zu schildern -- des Wetters in sich aufgenommen, so faßt er die ganze Unregelmäßigkeit meiner Reden leichter, und sie erscheint ihm wenigstens mit etwas im Zusammenhang. Ich schreibe nicht ganz ohne Wahl, in der Art wie ich es thue. Ich will nämlich, ein Brief soll ein Portrait von dem Augenblick sein, in welchem er geschrieben ist; und getroffen soll es hauptsächlich sein, so hoch auch Kunstanforderungen an ideelle Veredlung lauten mögen: von denen man allerdings wissen soll, aber nach denen sich zu gebärden affektirt, und
Künftigen Sommer können Sie mich mit ihm im ſüdlichen Deutſchland beſuchen.
Adieu bis dahin! Ihre Fr. V.
An Oelsner, in Paris.
Berlin, Donnerstag Abend 10 Uhr, den 27. December 1821.
Es iſt hier noch immer Thauwetter, ohne gefroren zu ha- ben; Einmal den 8. dieſes fiel Schnee, der nicht liegen blieb; alle Mittag giebt ſich die Sonne Mühe; die Sterne des Abends; man ſieht ſie. „Italien!“ ſchreien die Leute: ſie meinen das Wetter.
Sie haben mir geſagt, wie Sie meine Wetternotizen fin- den: ich will Ihnen ſagen, warum ich ſie mache. Grad aus dem entgegengeſetzten Grund, aus welchem die Chemiker es thun, von denen Sie mir ſprechen. Dieſe wollen die Methode mit daraus bilden, nach der ſie zu verfahren gedenken: ich aber will, daß es mir helfe meine unmethodiſche Verfahrungs- art zu entſchuldigen. Das Wetter hilft die ganze Situation des Tages machen, ja ſie beſteht zum Theil daraus; und hat nun mein Leſer die Phyſionomie — ich bilde mir ein, es phy- ſionomiſch zu ſchildern — des Wetters in ſich aufgenommen, ſo faßt er die ganze Unregelmäßigkeit meiner Reden leichter, und ſie erſcheint ihm wenigſtens mit etwas im Zuſammenhang. Ich ſchreibe nicht ganz ohne Wahl, in der Art wie ich es thue. Ich will nämlich, ein Brief ſoll ein Portrait von dem Augenblick ſein, in welchem er geſchrieben iſt; und getroffen ſoll es hauptſächlich ſein, ſo hoch auch Kunſtanforderungen an ideelle Veredlung lauten mögen: von denen man allerdings wiſſen ſoll, aber nach denen ſich zu gebärden affektirt, und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0063"n="55"/>
Künftigen Sommer können Sie mich mit ihm im ſüdlichen<lb/>
Deutſchland beſuchen.</p><closer><salute>Adieu bis dahin! <hirendition="#et">Ihre Fr. V.</hi></salute></closer></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>An Oelsner, in Paris.</head><lb/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Berlin, Donnerstag Abend 10 Uhr, den 27. December 1821.</hi></dateline><lb/><p><hirendition="#et">Es iſt hier noch immer Thauwetter, ohne gefroren zu ha-<lb/>
ben; Einmal den 8. dieſes fiel Schnee, der nicht liegen<lb/>
blieb; alle Mittag giebt ſich die Sonne Mühe; die Sterne<lb/>
des Abends; man ſieht ſie. „Italien!“ſchreien die Leute:<lb/>ſie meinen das Wetter.</hi></p><lb/><p>Sie haben mir geſagt, wie Sie meine Wetternotizen fin-<lb/>
den: ich will Ihnen ſagen, warum ich ſie mache. Grad aus<lb/>
dem entgegengeſetzten Grund, aus welchem die Chemiker es<lb/>
thun, von denen Sie mir ſprechen. Dieſe wollen die Methode<lb/>
mit daraus bilden, nach der ſie zu verfahren gedenken: ich<lb/>
aber will, daß es mir helfe meine unmethodiſche Verfahrungs-<lb/>
art zu entſchuldigen. Das Wetter hilft die ganze Situation<lb/>
des Tages machen, ja ſie beſteht zum Theil daraus; und hat<lb/>
nun mein Leſer die Phyſionomie — ich bilde mir ein, es phy-<lb/>ſionomiſch zu ſchildern — des Wetters in ſich aufgenommen,<lb/>ſo faßt er die ganze Unregelmäßigkeit meiner Reden leichter,<lb/>
und ſie erſcheint ihm wenigſtens mit etwas im Zuſammenhang.<lb/>
Ich ſchreibe nicht ganz ohne Wahl, in der Art wie ich es<lb/>
thue. Ich will nämlich, ein Brief ſoll ein Portrait von dem<lb/>
Augenblick ſein, in welchem er geſchrieben iſt; und getroffen<lb/>ſoll es hauptſächlich ſein, ſo hoch auch Kunſtanforderungen<lb/>
an ideelle Veredlung lauten mögen: von denen man allerdings<lb/>
wiſſen ſoll, aber nach denen ſich zu gebärden affektirt, und<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[55/0063]
Künftigen Sommer können Sie mich mit ihm im ſüdlichen
Deutſchland beſuchen.
Adieu bis dahin! Ihre Fr. V.
An Oelsner, in Paris.
Berlin, Donnerstag Abend 10 Uhr, den 27. December 1821.
Es iſt hier noch immer Thauwetter, ohne gefroren zu ha-
ben; Einmal den 8. dieſes fiel Schnee, der nicht liegen
blieb; alle Mittag giebt ſich die Sonne Mühe; die Sterne
des Abends; man ſieht ſie. „Italien!“ ſchreien die Leute:
ſie meinen das Wetter.
Sie haben mir geſagt, wie Sie meine Wetternotizen fin-
den: ich will Ihnen ſagen, warum ich ſie mache. Grad aus
dem entgegengeſetzten Grund, aus welchem die Chemiker es
thun, von denen Sie mir ſprechen. Dieſe wollen die Methode
mit daraus bilden, nach der ſie zu verfahren gedenken: ich
aber will, daß es mir helfe meine unmethodiſche Verfahrungs-
art zu entſchuldigen. Das Wetter hilft die ganze Situation
des Tages machen, ja ſie beſteht zum Theil daraus; und hat
nun mein Leſer die Phyſionomie — ich bilde mir ein, es phy-
ſionomiſch zu ſchildern — des Wetters in ſich aufgenommen,
ſo faßt er die ganze Unregelmäßigkeit meiner Reden leichter,
und ſie erſcheint ihm wenigſtens mit etwas im Zuſammenhang.
Ich ſchreibe nicht ganz ohne Wahl, in der Art wie ich es
thue. Ich will nämlich, ein Brief ſoll ein Portrait von dem
Augenblick ſein, in welchem er geſchrieben iſt; und getroffen
ſoll es hauptſächlich ſein, ſo hoch auch Kunſtanforderungen
an ideelle Veredlung lauten mögen: von denen man allerdings
wiſſen ſoll, aber nach denen ſich zu gebärden affektirt, und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/63>, abgerufen am 20.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.