(Diktirt.) Mittwoch, den 9. November 1831. 1 Uhr Mittags.
Graues Wetter, feuchter Boden, die Sonne schiebt die Wolken ein bischen zurück; der Herr Poley will sous la dictee schreiben.
Ich aber kann nicht diktiren, Sie gewiß auch nicht, das kann gewiß nur Goethe. Anstatt ein bewegtes, organisches, blutadriges Kind wird mein Brief eine lederne Puppe wer- den, der man nach und nach die Gedärme einstopft. Ich habe nie gewußt, daß mein Kopf eigentlich das Dintenfaß ist, worin ich meine Feder eintauchen muß, und daß keine fremde Hand dazwischen sein darf. Also nur das Wichtigste, theure Minna, liebe Tochter, wie Sie es gern hören.
Auch ich leide an den Augen, und habe seit vierzehn Ta- gen, oder länger, Dr. Jüngken. Nervenverstimmung, Rheu- matismen, alte und neue Choleraluft, krankhafter Druck auf dem Auge, der durchaus kein Schreiben erlaubt; Lesen kann ich Abends, wenn ich mich zwinge; mouche volante obenein. Also verordne ich, was ich seit drei Tagen mit größtem Er- folg thue. -- -- Dann und wann, vielleicht die Woche zwei- mal, nehme ich ein Malzbad mit Schwefel, aber vor meinem Bette. Denn es ist Rheuma, Rheuma. Die Atmosphäre will keinen Menschen mehr dulden, und so viel möglich muß eine geschaffen werden. Nun kommt der zweite wichtige Punkt. Sie kommen, und müssen nach Berlin kommen. Soll ich Ihnen in meiner Nähe ein Quartier miethen. Gerne sorge
An Frau von Zielinski, in Frankfurt a. d. Oder.
(Diktirt.) Mittwoch, den 9. November 1831. 1 Uhr Mittags.
Graues Wetter, feuchter Boden, die Sonne ſchiebt die Wolken ein bischen zurück; der Herr Poley will sous la dictée ſchreiben.
Ich aber kann nicht diktiren, Sie gewiß auch nicht, das kann gewiß nur Goethe. Anſtatt ein bewegtes, organiſches, blutadriges Kind wird mein Brief eine lederne Puppe wer- den, der man nach und nach die Gedärme einſtopft. Ich habe nie gewußt, daß mein Kopf eigentlich das Dintenfaß iſt, worin ich meine Feder eintauchen muß, und daß keine fremde Hand dazwiſchen ſein darf. Alſo nur das Wichtigſte, theure Minna, liebe Tochter, wie Sie es gern hören.
Auch ich leide an den Augen, und habe ſeit vierzehn Ta- gen, oder länger, Dr. Jüngken. Nervenverſtimmung, Rheu- matismen, alte und neue Choleraluft, krankhafter Druck auf dem Auge, der durchaus kein Schreiben erlaubt; Leſen kann ich Abends, wenn ich mich zwinge; mouche volante obenein. Alſo verordne ich, was ich ſeit drei Tagen mit größtem Er- folg thue. — — Dann und wann, vielleicht die Woche zwei- mal, nehme ich ein Malzbad mit Schwefel, aber vor meinem Bette. Denn es iſt Rheuma, Rheuma. Die Atmoſphäre will keinen Menſchen mehr dulden, und ſo viel möglich muß eine geſchaffen werden. Nun kommt der zweite wichtige Punkt. Sie kommen, und müſſen nach Berlin kommen. Soll ich Ihnen in meiner Nähe ein Quartier miethen. Gerne ſorge
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[537/0545]
An Frau von Zielinski, in Frankfurt a. d. Oder.
(Diktirt.)
Mittwoch, den 9. November 1831. 1 Uhr Mittags.
Graues Wetter, feuchter Boden, die Sonne ſchiebt die
Wolken ein bischen zurück; der Herr Poley will sous
la dictée ſchreiben.
Ich aber kann nicht diktiren, Sie gewiß auch nicht, das
kann gewiß nur Goethe. Anſtatt ein bewegtes, organiſches,
blutadriges Kind wird mein Brief eine lederne Puppe wer-
den, der man nach und nach die Gedärme einſtopft. Ich
habe nie gewußt, daß mein Kopf eigentlich das Dintenfaß iſt,
worin ich meine Feder eintauchen muß, und daß keine fremde
Hand dazwiſchen ſein darf. Alſo nur das Wichtigſte, theure
Minna, liebe Tochter, wie Sie es gern hören.
Auch ich leide an den Augen, und habe ſeit vierzehn Ta-
gen, oder länger, Dr. Jüngken. Nervenverſtimmung, Rheu-
matismen, alte und neue Choleraluft, krankhafter Druck auf
dem Auge, der durchaus kein Schreiben erlaubt; Leſen kann
ich Abends, wenn ich mich zwinge; mouche volante obenein.
Alſo verordne ich, was ich ſeit drei Tagen mit größtem Er-
folg thue. — — Dann und wann, vielleicht die Woche zwei-
mal, nehme ich ein Malzbad mit Schwefel, aber vor meinem
Bette. Denn es iſt Rheuma, Rheuma. Die Atmoſphäre will
keinen Menſchen mehr dulden, und ſo viel möglich muß eine
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/545>, abgerufen am 20.11.2024.
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