in ihm her. Er ist unbeschämbar. Und sollte er auch nur lachen, wo die Augen herabsehen, das Blut die Wangen be- suchen sollte. Besserung seiner selbst ist bei ihm eine neue Koketterie, ein Stickarbeiten auf dem Rahmen einer dummen Dame, zum Prahlen; der Begriff ist seiner Seele fremd, wie dem Thier das Gewissen. Dumpfe Ahndung hetzt ihn in fast beständige Verlegenheit, die er mit dummer gelogener Hei- terkeit sich abläugnet: nicht mir. --
An Frau von Cotta, in München.
Donnerstag Abend 8 Uhr, den 29. Oktober 1829.
Das ist eine schöne Erholung, die der Herr von Cotta da vorgenommen hat! Nach Lüttich zu reisen. Nach dem schwar- zen Lüttich, wo hineinzufahren schon die größte Fatigue ist. Dieses Bergauf in einen Thorweg, wo die größte Gefahr mit entgegenkommenden Frachtwagen herrscht. (Hier an dieser Stelle trat mein Bruder Ludwig Robert in mein Zimmer und ich mußte gestern Abend zu schreiben aufhören. Heute ist Frei- tag: käm' ich nur wieder auf denselben Punkt! ich erlebe wahr- lich zu viel Störungen: ein Herr, der alles, was er nur thut, zu Geschäften stempeln kann, hat es beim Himmel besser, als wir Alle.) Der glatte gepflasterte Boden, meist modrig, un- ten, bleibt in meiner Erfahrung, mit der -- oder ohne mit -- ärgste Reisepunkt, den ich kenne! Ce n'est qu'un mauvais pas! sagen die französischen Postillione; mauvais genug. Alles, das Unwohlsein und die Reise, dagegen hab' ich sehr glücklich,
in ihm her. Er iſt unbeſchämbar. Und ſollte er auch nur lachen, wo die Augen herabſehen, das Blut die Wangen be- ſuchen ſollte. Beſſerung ſeiner ſelbſt iſt bei ihm eine neue Koketterie, ein Stickarbeiten auf dem Rahmen einer dummen Dame, zum Prahlen; der Begriff iſt ſeiner Seele fremd, wie dem Thier das Gewiſſen. Dumpfe Ahndung hetzt ihn in faſt beſtändige Verlegenheit, die er mit dummer gelogener Hei- terkeit ſich abläugnet: nicht mir. —
An Frau von Cotta, in München.
Donnerstag Abend 8 Uhr, den 29. Oktober 1829.
Das iſt eine ſchöne Erholung, die der Herr von Cotta da vorgenommen hat! Nach Lüttich zu reiſen. Nach dem ſchwar- zen Lüttich, wo hineinzufahren ſchon die größte Fatigue iſt. Dieſes Bergauf in einen Thorweg, wo die größte Gefahr mit entgegenkommenden Frachtwagen herrſcht. (Hier an dieſer Stelle trat mein Bruder Ludwig Robert in mein Zimmer und ich mußte geſtern Abend zu ſchreiben aufhören. Heute iſt Frei- tag: käm’ ich nur wieder auf denſelben Punkt! ich erlebe wahr- lich zu viel Störungen: ein Herr, der alles, was er nur thut, zu Geſchäften ſtempeln kann, hat es beim Himmel beſſer, als wir Alle.) Der glatte gepflaſterte Boden, meiſt modrig, un- ten, bleibt in meiner Erfahrung, mit der — oder ohne mit — ärgſte Reiſepunkt, den ich kenne! Ce n’est qu’un mauvais pas! ſagen die franzöſiſchen Poſtillione; mauvais genug. Alles, das Unwohlſein und die Reiſe, dagegen hab’ ich ſehr glücklich,
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in ihm her. Er iſt unbeſchämbar. Und ſollte er auch nur
lachen, wo die Augen herabſehen, das Blut die Wangen be-
ſuchen ſollte. Beſſerung ſeiner ſelbſt iſt bei ihm eine neue
Koketterie, ein Stickarbeiten auf dem Rahmen einer dummen
Dame, zum Prahlen; der Begriff iſt ſeiner Seele fremd, wie
dem Thier das Gewiſſen. Dumpfe Ahndung hetzt ihn in faſt
beſtändige Verlegenheit, die er mit dummer gelogener Hei-
terkeit ſich abläugnet: nicht mir. —
An Frau von Cotta, in München.
Donnerstag Abend 8 Uhr, den 29. Oktober 1829.
Das iſt eine ſchöne Erholung, die der Herr von Cotta da
vorgenommen hat! Nach Lüttich zu reiſen. Nach dem ſchwar-
zen Lüttich, wo hineinzufahren ſchon die größte Fatigue iſt.
Dieſes Bergauf in einen Thorweg, wo die größte Gefahr mit
entgegenkommenden Frachtwagen herrſcht. (Hier an dieſer
Stelle trat mein Bruder Ludwig Robert in mein Zimmer und
ich mußte geſtern Abend zu ſchreiben aufhören. Heute iſt Frei-
tag: käm’ ich nur wieder auf denſelben Punkt! ich erlebe wahr-
lich zu viel Störungen: ein Herr, der alles, was er nur thut,
zu Geſchäften ſtempeln kann, hat es beim Himmel beſſer, als
wir Alle.) Der glatte gepflaſterte Boden, meiſt modrig, un-
ten, bleibt in meiner Erfahrung, mit der — oder ohne mit —
ärgſte Reiſepunkt, den ich kenne! Ce n’est qu’un mauvais
pas! ſagen die franzöſiſchen Poſtillione; mauvais genug. Alles,
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/414>, abgerufen am 20.11.2024.
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