Allmächtiger Gott sei uns gnädig! Lehr' uns, wie wir zu dir stehen!
An Adam von Müller, in Leipzig.
Den 15. December 1820.
-- Angelus tiefste, erhabenste, schönste, kühnste Sprüche sind und bleiben nur unschuldige Fragen, und demüthiges Verzichten. Die ersten bis zur kühnsten Keckheit eines geist- vollen Kindes. Ich muß hier noch sagen: es findet sich schon in Kindern diese Sitte, wie ich es nicht anders zu nennen weiß: die ganze Anlage, der ganze Keim zur Moralität. Wie sollt' ihnen auch sonst verständlich werden, was sich darauf bezieht? Aber verschieden sind die Kinder; grad nur darin. --
Und ich möchte sagen, was ist am Ende der Mensch an- ders, als eine Frage! Zum Fragen, nur zum Fragen, zum ehrlich kühnen Fragen, und zum demüthigen Warten auf Antwort, ist er hier. Nicht kühn fragen, und sich schmeichel- hafte Antworten geben, ist der tiefe Grund zu allem Irrthum: und ist man in diesem auch ehrlich, und irrt nur, so ist es doch Verzärtelung und Mangel an Klarheit; und bei beiden können wir nicht immer verweilen: Die große allgütige Ein- richtung Gottes, das wirkliche Verhalten der Dinge unter- einander, und der Gedanken zu den Dingen, wird uns doch zum schwereren, demüthigern Werke mit fortreißen. Auf solche Weise, glaub' ich, sind wir zum ganzen hiesigen Dasein ge-
Allmächtiger Gott ſei uns gnädig! Lehr’ uns, wie wir zu dir ſtehen!
An Adam von Müller, in Leipzig.
Den 15. December 1820.
— Angelus tiefſte, erhabenſte, ſchönſte, kühnſte Sprüche ſind und bleiben nur unſchuldige Fragen, und demüthiges Verzichten. Die erſten bis zur kühnſten Keckheit eines geiſt- vollen Kindes. Ich muß hier noch ſagen: es findet ſich ſchon in Kindern dieſe Sitte, wie ich es nicht anders zu nennen weiß: die ganze Anlage, der ganze Keim zur Moralität. Wie ſollt’ ihnen auch ſonſt verſtändlich werden, was ſich darauf bezieht? Aber verſchieden ſind die Kinder; grad nur darin. —
Und ich möchte ſagen, was iſt am Ende der Menſch an- ders, als eine Frage! Zum Fragen, nur zum Fragen, zum ehrlich kühnen Fragen, und zum demüthigen Warten auf Antwort, iſt er hier. Nicht kühn fragen, und ſich ſchmeichel- hafte Antworten geben, iſt der tiefe Grund zu allem Irrthum: und iſt man in dieſem auch ehrlich, und irrt nur, ſo iſt es doch Verzärtelung und Mangel an Klarheit; und bei beiden können wir nicht immer verweilen: Die große allgütige Ein- richtung Gottes, das wirkliche Verhalten der Dinge unter- einander, und der Gedanken zu den Dingen, wird uns doch zum ſchwereren, demüthigern Werke mit fortreißen. Auf ſolche Weiſe, glaub’ ich, ſind wir zum ganzen hieſigen Daſein ge-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0038"n="30"/><p>Allmächtiger Gott ſei uns gnädig! Lehr’ uns, wie wir<lb/>
zu dir ſtehen!</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>An Adam von Müller, in Leipzig.</head><lb/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Den 15. December 1820.</hi></dateline><lb/><p>— Angelus tiefſte, erhabenſte, ſchönſte, kühnſte Sprüche<lb/>ſind und bleiben nur unſchuldige Fragen, und demüthiges<lb/>
Verzichten. Die erſten bis zur kühnſten Keckheit eines geiſt-<lb/>
vollen Kindes. Ich muß hier noch ſagen: es findet ſich ſchon<lb/>
in Kindern dieſe Sitte, wie ich es nicht anders zu nennen<lb/>
weiß: die ganze Anlage, der ganze Keim zur Moralität.<lb/>
Wie ſollt’ ihnen auch ſonſt verſtändlich werden, was ſich<lb/>
darauf bezieht? Aber verſchieden ſind die Kinder; grad nur<lb/>
darin. —</p><lb/><p>Und ich möchte ſagen, was iſt am Ende der Menſch an-<lb/>
ders, als eine Frage! Zum Fragen, nur zum Fragen, zum<lb/>
ehrlich kühnen Fragen, und zum demüthigen Warten auf<lb/>
Antwort, iſt er hier. Nicht kühn fragen, und ſich ſchmeichel-<lb/>
hafte Antworten geben, iſt der tiefe Grund zu allem Irrthum:<lb/>
und iſt man in dieſem auch ehrlich, und irrt nur, ſo iſt es<lb/>
doch Verzärtelung und Mangel an Klarheit; und bei beiden<lb/>
können wir nicht immer verweilen: Die große allgütige Ein-<lb/>
richtung Gottes, das wirkliche Verhalten der Dinge unter-<lb/>
einander, und der Gedanken zu den Dingen, wird uns doch<lb/>
zum ſchwereren, demüthigern Werke mit fortreißen. Auf ſolche<lb/>
Weiſe, glaub’ ich, ſind wir zum ganzen hieſigen Daſein ge-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[30/0038]
Allmächtiger Gott ſei uns gnädig! Lehr’ uns, wie wir
zu dir ſtehen!
An Adam von Müller, in Leipzig.
Den 15. December 1820.
— Angelus tiefſte, erhabenſte, ſchönſte, kühnſte Sprüche
ſind und bleiben nur unſchuldige Fragen, und demüthiges
Verzichten. Die erſten bis zur kühnſten Keckheit eines geiſt-
vollen Kindes. Ich muß hier noch ſagen: es findet ſich ſchon
in Kindern dieſe Sitte, wie ich es nicht anders zu nennen
weiß: die ganze Anlage, der ganze Keim zur Moralität.
Wie ſollt’ ihnen auch ſonſt verſtändlich werden, was ſich
darauf bezieht? Aber verſchieden ſind die Kinder; grad nur
darin. —
Und ich möchte ſagen, was iſt am Ende der Menſch an-
ders, als eine Frage! Zum Fragen, nur zum Fragen, zum
ehrlich kühnen Fragen, und zum demüthigen Warten auf
Antwort, iſt er hier. Nicht kühn fragen, und ſich ſchmeichel-
hafte Antworten geben, iſt der tiefe Grund zu allem Irrthum:
und iſt man in dieſem auch ehrlich, und irrt nur, ſo iſt es
doch Verzärtelung und Mangel an Klarheit; und bei beiden
können wir nicht immer verweilen: Die große allgütige Ein-
richtung Gottes, das wirkliche Verhalten der Dinge unter-
einander, und der Gedanken zu den Dingen, wird uns doch
zum ſchwereren, demüthigern Werke mit fortreißen. Auf ſolche
Weiſe, glaub’ ich, ſind wir zum ganzen hieſigen Daſein ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/38>, abgerufen am 20.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.