Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

redliches, feines Wesen sagt mir ganz zu. Wir wollen diese
Sache für unser ferneres Leben nicht verloren sein lassen. --



Weit öfter halten sich die Leute untereinander für das,
was sie sein möchten und vorstellen wollen, als für das, was
sie wirklich sind. Mir ist das mit einemmale ganz klar ge-
worden, als mir einfiel, wie sehr ich Kinder liebe; wie ich
mich mit ihnen abgeben kann; zeitlebens welche zu besorgen
hatte, und sie mir schaffte. In allen Häusern, in allen Städ-
ten: Geschwister, Nichten, Fremde, Nachbarn; alle Sorten.
Nie ist es Einem eingefallen, mir den Titel Kinderfreundin
zu geben, oder mich dafür anzusehen; mir selbst ist es nicht
eingefallen.





Es kann uns nie in Verlegenheit setzen, wenn wir nur
wir sein sollen; aber wohl, wenn wir unsre Maske vorstellen
müssen! Mit andern umfassendern Worten: wir müßten im-
mer wahr sein dürfen. Das fiel mir von neuem bei der Vor-
stellung ein, wie ich mich in einem Orte, z. B. in einem frem-
den Bade ganz getrost befinden könnte, mit dem geringsten
Anzuge, ausgeschlossen aus der Gesellschaft; nur auf den Um-
gang der Leute beschränkt, mit denen man wahrhaft zu thun
hat, oder Bauersleute, u. dgl. Man müßte aber nicht wissen,
wer ich bin; oder vielmehr, es müßte kein Bekannter dort
sein. Der wollte doch schon, daß ich ferner nach meiner vo-
rigen ihm bekannten Maske leben soll; was ich war, wie ich

redliches, feines Weſen ſagt mir ganz zu. Wir wollen dieſe
Sache für unſer ferneres Leben nicht verloren ſein laſſen. —



Weit öfter halten ſich die Leute untereinander für das,
was ſie ſein möchten und vorſtellen wollen, als für das, was
ſie wirklich ſind. Mir iſt das mit einemmale ganz klar ge-
worden, als mir einfiel, wie ſehr ich Kinder liebe; wie ich
mich mit ihnen abgeben kann; zeitlebens welche zu beſorgen
hatte, und ſie mir ſchaffte. In allen Häuſern, in allen Städ-
ten: Geſchwiſter, Nichten, Fremde, Nachbarn; alle Sorten.
Nie iſt es Einem eingefallen, mir den Titel Kinderfreundin
zu geben, oder mich dafür anzuſehen; mir ſelbſt iſt es nicht
eingefallen.





Es kann uns nie in Verlegenheit ſetzen, wenn wir nur
wir ſein ſollen; aber wohl, wenn wir unſre Maske vorſtellen
müſſen! Mit andern umfaſſendern Worten: wir müßten im-
mer wahr ſein dürfen. Das fiel mir von neuem bei der Vor-
ſtellung ein, wie ich mich in einem Orte, z. B. in einem frem-
den Bade ganz getroſt befinden könnte, mit dem geringſten
Anzuge, ausgeſchloſſen aus der Geſellſchaft; nur auf den Um-
gang der Leute beſchränkt, mit denen man wahrhaft zu thun
hat, oder Bauersleute, u. dgl. Man müßte aber nicht wiſſen,
wer ich bin; oder vielmehr, es müßte kein Bekannter dort
ſein. Der wollte doch ſchon, daß ich ferner nach meiner vo-
rigen ihm bekannten Maske leben ſoll; was ich war, wie ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0215" n="207"/>
redliches, feines We&#x017F;en &#x017F;agt mir ganz zu. Wir wollen die&#x017F;e<lb/>
Sache für un&#x017F;er ferneres Leben nicht verloren &#x017F;ein la&#x017F;&#x017F;en. &#x2014;</p><lb/>
          </div>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <p>Weit öfter halten &#x017F;ich die Leute untereinander für das,<lb/>
was &#x017F;ie &#x017F;ein möchten und vor&#x017F;tellen wollen, als für das, was<lb/>
&#x017F;ie wirklich &#x017F;ind. Mir i&#x017F;t das mit einemmale ganz klar ge-<lb/>
worden, als mir einfiel, wie &#x017F;ehr ich Kinder liebe; wie ich<lb/>
mich mit ihnen abgeben kann; zeitlebens welche zu be&#x017F;orgen<lb/>
hatte, und &#x017F;ie mir &#x017F;chaffte. In allen Häu&#x017F;ern, in allen Städ-<lb/>
ten: Ge&#x017F;chwi&#x017F;ter, Nichten, Fremde, Nachbarn; alle Sorten.<lb/>
Nie i&#x017F;t es Einem eingefallen, mir den Titel Kinderfreundin<lb/>
zu geben, oder mich dafür anzu&#x017F;ehen; mir &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t es nicht<lb/>
eingefallen.</p><lb/>
            <dateline> <hi rendition="#et">Sommer 1825.</hi> </dateline>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Sonntag, den 19. Juni 1825.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Es kann uns nie in Verlegenheit &#x017F;etzen, wenn wir nur<lb/>
wir &#x017F;ein &#x017F;ollen; aber wohl, wenn wir un&#x017F;re Maske vor&#x017F;tellen<lb/>&#x017F;&#x017F;en! Mit andern umfa&#x017F;&#x017F;endern Worten: wir müßten im-<lb/>
mer wahr &#x017F;ein dürfen. Das fiel mir von neuem bei der Vor-<lb/>
&#x017F;tellung ein, wie ich mich in einem Orte, z. B. in einem frem-<lb/>
den Bade ganz getro&#x017F;t befinden könnte, mit dem gering&#x017F;ten<lb/>
Anzuge, ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en aus der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft; nur auf den Um-<lb/>
gang der Leute be&#x017F;chränkt, mit denen man wahrhaft zu thun<lb/>
hat, oder Bauersleute, u. dgl. Man müßte aber nicht wi&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
wer ich bin; oder vielmehr, es müßte kein Bekannter dort<lb/>
&#x017F;ein. Der wollte doch &#x017F;chon, daß ich ferner nach meiner vo-<lb/>
rigen ihm bekannten Maske leben &#x017F;oll; was ich war, wie ich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[207/0215] redliches, feines Weſen ſagt mir ganz zu. Wir wollen dieſe Sache für unſer ferneres Leben nicht verloren ſein laſſen. — Weit öfter halten ſich die Leute untereinander für das, was ſie ſein möchten und vorſtellen wollen, als für das, was ſie wirklich ſind. Mir iſt das mit einemmale ganz klar ge- worden, als mir einfiel, wie ſehr ich Kinder liebe; wie ich mich mit ihnen abgeben kann; zeitlebens welche zu beſorgen hatte, und ſie mir ſchaffte. In allen Häuſern, in allen Städ- ten: Geſchwiſter, Nichten, Fremde, Nachbarn; alle Sorten. Nie iſt es Einem eingefallen, mir den Titel Kinderfreundin zu geben, oder mich dafür anzuſehen; mir ſelbſt iſt es nicht eingefallen. Sommer 1825. Sonntag, den 19. Juni 1825. Es kann uns nie in Verlegenheit ſetzen, wenn wir nur wir ſein ſollen; aber wohl, wenn wir unſre Maske vorſtellen müſſen! Mit andern umfaſſendern Worten: wir müßten im- mer wahr ſein dürfen. Das fiel mir von neuem bei der Vor- ſtellung ein, wie ich mich in einem Orte, z. B. in einem frem- den Bade ganz getroſt befinden könnte, mit dem geringſten Anzuge, ausgeſchloſſen aus der Geſellſchaft; nur auf den Um- gang der Leute beſchränkt, mit denen man wahrhaft zu thun hat, oder Bauersleute, u. dgl. Man müßte aber nicht wiſſen, wer ich bin; oder vielmehr, es müßte kein Bekannter dort ſein. Der wollte doch ſchon, daß ich ferner nach meiner vo- rigen ihm bekannten Maske leben ſoll; was ich war, wie ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/215
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/215>, abgerufen am 20.11.2024.