Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

vor dem Anfange dieses Lebens zurückliegt; da rief Rahel in
schwermüthiger Trauer schmerzlich: "Ach, wir sind nur ein
Tropfen Bewußtsein! Ich will auch ja so gern wieder zurück
in's Meer, will gar nichts besonders sein!"




"Freilich bin ich ein Egoist! Ich bin ja ein ego zu ei-
nem Ich geschaffen!"

Abscheuliches Bekenntniß! und darauf sind Sie noch stolz?

"Es kommt auf die Auslegung an: darauf, heißt das,
was wir verstehn. Je enger Sie Ihr Ich einschließen, je
plumper Sie es beschränken, je ungelenker im groben direkten
Genuß Sie es lassen, je unausstehlicher wird es den andern
Ich's werden, und sich selbst am meisten zur Last (im tiefsten
Sinne des Worts): aber allen Ich's mehr einräumen, als
dem eignen, ist Verdrehung oder Lüge, wenigstens gegen uns
selbst. Haben Sie meine Abscheulichkeit nun besser verstanden?"




Wenn man auf der Straße nach der Vorübergehenden
Gesprächen horcht: so wird man sehr selten etwas andres hö-
ren, als Klagen; oder Prahlereien. Alle Menschen streben
überhaupt nach einem würdigern, angemessenern Dasein: in
Wahrheit; dann klagen sie: oder unterdessen in Lüge; dann
prahlen sie. Vieles Prahlen entsteht auch aus Mangel an
Gerechtigkeit: widerführe uns Gerechtigkeit in Anerkennung
aller Art; niemand prahlte; so aber füllt jeder Lücken mit

13 *

vor dem Anfange dieſes Lebens zurückliegt; da rief Rahel in
ſchwermüthiger Trauer ſchmerzlich: „Ach, wir ſind nur ein
Tropfen Bewußtſein! Ich will auch ja ſo gern wieder zurück
in’s Meer, will gar nichts beſonders ſein!“




„Freilich bin ich ein Egoiſt! Ich bin ja ein ego zu ei-
nem Ich geſchaffen!“

Abſcheuliches Bekenntniß! und darauf ſind Sie noch ſtolz?

„Es kommt auf die Auslegung an: darauf, heißt das,
was wir verſtehn. Je enger Sie Ihr Ich einſchließen, je
plumper Sie es beſchränken, je ungelenker im groben direkten
Genuß Sie es laſſen, je unausſtehlicher wird es den andern
Ich’s werden, und ſich ſelbſt am meiſten zur Laſt (im tiefſten
Sinne des Worts): aber allen Ich’s mehr einräumen, als
dem eignen, iſt Verdrehung oder Lüge, wenigſtens gegen uns
ſelbſt. Haben Sie meine Abſcheulichkeit nun beſſer verſtanden?“




Wenn man auf der Straße nach der Vorübergehenden
Geſprächen horcht: ſo wird man ſehr ſelten etwas andres hö-
ren, als Klagen; oder Prahlereien. Alle Menſchen ſtreben
überhaupt nach einem würdigern, angemeſſenern Daſein: in
Wahrheit; dann klagen ſie: oder unterdeſſen in Lüge; dann
prahlen ſie. Vieles Prahlen entſteht auch aus Mangel an
Gerechtigkeit: widerführe uns Gerechtigkeit in Anerkennung
aller Art; niemand prahlte; ſo aber füllt jeder Lücken mit

13 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0203" n="195"/>
vor dem Anfange die&#x017F;es Lebens zurückliegt; da rief Rahel in<lb/>
&#x017F;chwermüthiger Trauer &#x017F;chmerzlich: &#x201E;Ach, wir &#x017F;ind nur ein<lb/>
Tropfen Bewußt&#x017F;ein! Ich will auch ja &#x017F;o gern wieder zurück<lb/>
in&#x2019;s Meer, will gar nichts be&#x017F;onders &#x017F;ein!&#x201C;</p><lb/>
            <dateline> <hi rendition="#et">Den 24. April 1825.</hi> </dateline>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <p>&#x201E;Freilich bin ich ein Egoi&#x017F;t! Ich bin ja ein <hi rendition="#aq">ego</hi> zu ei-<lb/>
nem Ich ge&#x017F;chaffen!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Ab&#x017F;cheuliches Bekenntniß! und darauf &#x017F;ind Sie noch &#x017F;tolz?</p><lb/>
            <p>&#x201E;Es kommt auf die Auslegung an: darauf, heißt das,<lb/>
was wir ver&#x017F;tehn. Je enger Sie Ihr Ich ein&#x017F;chließen, je<lb/>
plumper Sie es be&#x017F;chränken, je ungelenker im groben direkten<lb/>
Genuß Sie es la&#x017F;&#x017F;en, je unaus&#x017F;tehlicher wird es den andern<lb/>
Ich&#x2019;s werden, und &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t am mei&#x017F;ten zur La&#x017F;t (im tief&#x017F;ten<lb/>
Sinne des Worts): aber allen Ich&#x2019;s mehr einräumen, als<lb/>
dem eignen, i&#x017F;t Verdrehung oder Lüge, wenig&#x017F;tens gegen uns<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t. Haben Sie meine Ab&#x017F;cheulichkeit nun be&#x017F;&#x017F;er ver&#x017F;tanden?&#x201C;</p><lb/>
            <dateline> <hi rendition="#et">Freitag, den 28. April 1825.</hi> </dateline>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <p>Wenn man auf der Straße nach der Vorübergehenden<lb/>
Ge&#x017F;prächen horcht: &#x017F;o wird man &#x017F;ehr &#x017F;elten etwas andres hö-<lb/>
ren, als Klagen; oder Prahlereien. Alle Men&#x017F;chen &#x017F;treben<lb/>
überhaupt nach einem würdigern, angeme&#x017F;&#x017F;enern Da&#x017F;ein: in<lb/>
Wahrheit; dann klagen &#x017F;ie: oder unterde&#x017F;&#x017F;en in Lüge; dann<lb/>
prahlen &#x017F;ie. Vieles Prahlen ent&#x017F;teht auch aus Mangel an<lb/>
Gerechtigkeit: widerführe uns Gerechtigkeit in Anerkennung<lb/>
aller Art; niemand prahlte; &#x017F;o aber füllt jeder Lücken mit<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">13 *</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0203] vor dem Anfange dieſes Lebens zurückliegt; da rief Rahel in ſchwermüthiger Trauer ſchmerzlich: „Ach, wir ſind nur ein Tropfen Bewußtſein! Ich will auch ja ſo gern wieder zurück in’s Meer, will gar nichts beſonders ſein!“ Den 24. April 1825. „Freilich bin ich ein Egoiſt! Ich bin ja ein ego zu ei- nem Ich geſchaffen!“ Abſcheuliches Bekenntniß! und darauf ſind Sie noch ſtolz? „Es kommt auf die Auslegung an: darauf, heißt das, was wir verſtehn. Je enger Sie Ihr Ich einſchließen, je plumper Sie es beſchränken, je ungelenker im groben direkten Genuß Sie es laſſen, je unausſtehlicher wird es den andern Ich’s werden, und ſich ſelbſt am meiſten zur Laſt (im tiefſten Sinne des Worts): aber allen Ich’s mehr einräumen, als dem eignen, iſt Verdrehung oder Lüge, wenigſtens gegen uns ſelbſt. Haben Sie meine Abſcheulichkeit nun beſſer verſtanden?“ Freitag, den 28. April 1825. Wenn man auf der Straße nach der Vorübergehenden Geſprächen horcht: ſo wird man ſehr ſelten etwas andres hö- ren, als Klagen; oder Prahlereien. Alle Menſchen ſtreben überhaupt nach einem würdigern, angemeſſenern Daſein: in Wahrheit; dann klagen ſie: oder unterdeſſen in Lüge; dann prahlen ſie. Vieles Prahlen entſteht auch aus Mangel an Gerechtigkeit: widerführe uns Gerechtigkeit in Anerkennung aller Art; niemand prahlte; ſo aber füllt jeder Lücken mit 13 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/203
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/203>, abgerufen am 20.11.2024.