wenn auch durch kein Räsonnement; durch Juliens Unglück, das sie uns im Tod bestätigt. Und so soll jedes Gedicht, jeder Roman verfahren, keine einzelne Lehre der Tugend dramatisi- ren, keine Maxime der Klugheit; was gewöhnlich so begierig und selbstzufrieden aufgenommen wird. Mich dünkt ganz an- ders. Solche Werke sollen ein Stück Welt vortragen; was da mit vor kommt, wird schön sein: jedes Genie wird ein an- der Theil ausheben, und es nach seiner Gemüthslage darstellen und färben, wie jedes Tages Licht uns die alte Erde neu zeigt, ja jedes Tages Stunde. So sind auch die großen Werke der großen Meister; alles findet man darin, was man in der Welt zu finden vermag; alle großen Betrachtungen: aber ich glaube nicht, daß diese Meister ein Gedankengerüst beklei- det haben. --
Mittwoch, den 19. Januar 1820.
Den letzten Sonntag vor acht Tagen wurd' ich krank; mußte Koreff holen lassen, und zu Bette bleiben; und leiden. So viel als wohl sonst litt ich nicht; aber das Übel war ganz mit allem Fieber nach dem Kopf getreten. -- Koreff behan- delte mich sehr gut, und mit großer Liebe; doch fühl' ich mich zerstörter als je noch, von solcher kleinen, oder vielmehr kur- zen Krankheit. Ärger beförderte sie, die große Kälte kam da- zu, und fand äußerst gestörte Nerven. -- Vorgestern erfuhr ich Oppenheims Tod: der mich wegen seiner Familie sehr schmerzt und beschäftigt. Gestern wieder eine unangenehme Nachricht, eine abschlägige Antwort. Und dann -- Goethen habe der Schlag getroffen. Darüber muß ich ganz schweigen.
wenn auch durch kein Räſonnement; durch Juliens Unglück, das ſie uns im Tod beſtätigt. Und ſo ſoll jedes Gedicht, jeder Roman verfahren, keine einzelne Lehre der Tugend dramatiſi- ren, keine Maxime der Klugheit; was gewöhnlich ſo begierig und ſelbſtzufrieden aufgenommen wird. Mich dünkt ganz an- ders. Solche Werke ſollen ein Stück Welt vortragen; was da mit vor kommt, wird ſchön ſein: jedes Genie wird ein an- der Theil ausheben, und es nach ſeiner Gemüthslage darſtellen und färben, wie jedes Tages Licht uns die alte Erde neu zeigt, ja jedes Tages Stunde. So ſind auch die großen Werke der großen Meiſter; alles findet man darin, was man in der Welt zu finden vermag; alle großen Betrachtungen: aber ich glaube nicht, daß dieſe Meiſter ein Gedankengerüſt beklei- det haben. —
Mittwoch, den 19. Januar 1820.
Den letzten Sonntag vor acht Tagen wurd’ ich krank; mußte Koreff holen laſſen, und zu Bette bleiben; und leiden. So viel als wohl ſonſt litt ich nicht; aber das Übel war ganz mit allem Fieber nach dem Kopf getreten. — Koreff behan- delte mich ſehr gut, und mit großer Liebe; doch fühl’ ich mich zerſtörter als je noch, von ſolcher kleinen, oder vielmehr kur- zen Krankheit. Ärger beförderte ſie, die große Kälte kam da- zu, und fand äußerſt geſtörte Nerven. — Vorgeſtern erfuhr ich Oppenheims Tod: der mich wegen ſeiner Familie ſehr ſchmerzt und beſchäftigt. Geſtern wieder eine unangenehme Nachricht, eine abſchlägige Antwort. Und dann — Goethen habe der Schlag getroffen. Darüber muß ich ganz ſchweigen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0019"n="11"/>
wenn auch durch kein Räſonnement; durch Juliens Unglück,<lb/>
das ſie uns im Tod beſtätigt. Und ſo ſoll jedes Gedicht, jeder<lb/>
Roman verfahren, keine einzelne Lehre der Tugend dramatiſi-<lb/>
ren, keine Maxime der Klugheit; was gewöhnlich ſo begierig<lb/>
und ſelbſtzufrieden aufgenommen wird. Mich dünkt ganz an-<lb/>
ders. Solche Werke ſollen ein Stück Welt vortragen; was<lb/>
da mit vor kommt, wird ſchön ſein: jedes Genie wird ein an-<lb/>
der Theil ausheben, und es nach ſeiner Gemüthslage darſtellen<lb/>
und färben, wie jedes Tages Licht uns die alte Erde neu zeigt,<lb/>
ja jedes Tages Stunde. So ſind auch die großen Werke der<lb/>
großen Meiſter; alles findet man darin, was man in der<lb/>
Welt zu finden vermag; alle großen Betrachtungen: aber ich<lb/>
glaube nicht, daß dieſe Meiſter ein Gedankengerüſt beklei-<lb/>
det haben. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Mittwoch, den 19. Januar 1820.</hi></dateline><lb/><p>Den letzten Sonntag vor acht Tagen wurd’ ich krank;<lb/>
mußte Koreff holen laſſen, und zu Bette bleiben; und leiden.<lb/>
So viel als wohl ſonſt litt ich nicht; aber das Übel war ganz<lb/>
mit allem Fieber nach dem Kopf getreten. — Koreff behan-<lb/>
delte mich ſehr gut, und mit großer Liebe; doch fühl’ ich mich<lb/>
zerſtörter als je noch, von ſolcher kleinen, oder vielmehr kur-<lb/>
zen Krankheit. Ärger beförderte ſie, die große Kälte kam da-<lb/>
zu, und fand äußerſt geſtörte Nerven. — Vorgeſtern erfuhr<lb/>
ich Oppenheims Tod: der mich wegen ſeiner Familie ſehr<lb/>ſchmerzt und beſchäftigt. Geſtern wieder eine unangenehme<lb/>
Nachricht, eine abſchlägige Antwort. Und dann — Goethen<lb/>
habe der Schlag getroffen. Darüber muß ich ganz ſchweigen.<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[11/0019]
wenn auch durch kein Räſonnement; durch Juliens Unglück,
das ſie uns im Tod beſtätigt. Und ſo ſoll jedes Gedicht, jeder
Roman verfahren, keine einzelne Lehre der Tugend dramatiſi-
ren, keine Maxime der Klugheit; was gewöhnlich ſo begierig
und ſelbſtzufrieden aufgenommen wird. Mich dünkt ganz an-
ders. Solche Werke ſollen ein Stück Welt vortragen; was
da mit vor kommt, wird ſchön ſein: jedes Genie wird ein an-
der Theil ausheben, und es nach ſeiner Gemüthslage darſtellen
und färben, wie jedes Tages Licht uns die alte Erde neu zeigt,
ja jedes Tages Stunde. So ſind auch die großen Werke der
großen Meiſter; alles findet man darin, was man in der
Welt zu finden vermag; alle großen Betrachtungen: aber ich
glaube nicht, daß dieſe Meiſter ein Gedankengerüſt beklei-
det haben. —
Mittwoch, den 19. Januar 1820.
Den letzten Sonntag vor acht Tagen wurd’ ich krank;
mußte Koreff holen laſſen, und zu Bette bleiben; und leiden.
So viel als wohl ſonſt litt ich nicht; aber das Übel war ganz
mit allem Fieber nach dem Kopf getreten. — Koreff behan-
delte mich ſehr gut, und mit großer Liebe; doch fühl’ ich mich
zerſtörter als je noch, von ſolcher kleinen, oder vielmehr kur-
zen Krankheit. Ärger beförderte ſie, die große Kälte kam da-
zu, und fand äußerſt geſtörte Nerven. — Vorgeſtern erfuhr
ich Oppenheims Tod: der mich wegen ſeiner Familie ſehr
ſchmerzt und beſchäftigt. Geſtern wieder eine unangenehme
Nachricht, eine abſchlägige Antwort. Und dann — Goethen
habe der Schlag getroffen. Darüber muß ich ganz ſchweigen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/19>, abgerufen am 20.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.