Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

es wirklich zwei Personen sind, und nicht dieselbe: die zu ret-
tende, und die feige, nicht helfende. -- Nur Bewußtsein über-
haupt konstituirt Persönlichkeit, -- da wo der Feige nicht
hilft, weiß er nicht, daß er Hülfe bedarf; wo ihm geholfen
wird und er nur Noth fühlt, nicht, daß er nicht helfen würde.
Es sind wirklich zwei verschiedene Wesen. Solcher ist in der
That nicht so weit wie eine Person: es ist nur eine Kreatur.
Und nun u. s. w.! --



Zu einem Talent gehört Karakter; Gemüths- und Gei-
stesfertigkeiten, in Naturanlagen begründet, machen es nicht.
Was hilft die reinste, klingendste Stimme, die beweglichste
Kehle, das schnellfassendste Ohr, das beste Gedächtniß, die
größte Nachahmungsgabe, wenn nicht eine einmalige tiefe
persönliche Ansicht der Natur, eine solche Gemüthsstimmung
mit ihren Varianten, ein helles, geistiges Auffassen hoher und
tiefer Zustände der menschlichen Natur, die Seele und der
Diktator dieser physisch materiellen Gaben wird? Diese eben
genannten Gaben, noch so geübt und gut zusammengeübt,
würden z. B. einen imitativen Sänger bilden, der bald in
Eines, bald in eines Andern Manier vorzutragen suchen wird,
bald wie eine Milder die Töne ziehen, bald wie die Catalani
wirbeln und schreien wird, Italiänern ihr parlando, furioso,
affannoso
und ihre Komik nachmachen, und sogar den Fran-
zosen etwas von dem gestörten Tonwesen ihrer Deklamation
absehn wird. Ist dies ein Talent zu nennen? ein ausgebilde-
tes? Dies sind ein paar Gaben, die, wie geschäftige Tischge-
räthe, den Fremden oberflächlichen Beifall abschöpfen! Dies

es wirklich zwei Perſonen ſind, und nicht dieſelbe: die zu ret-
tende, und die feige, nicht helfende. — Nur Bewußtſein über-
haupt konſtituirt Perſönlichkeit, — da wo der Feige nicht
hilft, weiß er nicht, daß er Hülfe bedarf; wo ihm geholfen
wird und er nur Noth fühlt, nicht, daß er nicht helfen würde.
Es ſind wirklich zwei verſchiedene Weſen. Solcher iſt in der
That nicht ſo weit wie eine Perſon: es iſt nur eine Kreatur.
Und nun u. ſ. w.! —



Zu einem Talent gehört Karakter; Gemüths- und Gei-
ſtesfertigkeiten, in Naturanlagen begründet, machen es nicht.
Was hilft die reinſte, klingendſte Stimme, die beweglichſte
Kehle, das ſchnellfaſſendſte Ohr, das beſte Gedächtniß, die
größte Nachahmungsgabe, wenn nicht eine einmalige tiefe
perſönliche Anſicht der Natur, eine ſolche Gemüthsſtimmung
mit ihren Varianten, ein helles, geiſtiges Auffaſſen hoher und
tiefer Zuſtände der menſchlichen Natur, die Seele und der
Diktator dieſer phyſiſch materiellen Gaben wird? Dieſe eben
genannten Gaben, noch ſo geübt und gut zuſammengeübt,
würden z. B. einen imitativen Sänger bilden, der bald in
Eines, bald in eines Andern Manier vorzutragen ſuchen wird,
bald wie eine Milder die Töne ziehen, bald wie die Catalani
wirbeln und ſchreien wird, Italiänern ihr parlando, furioso,
affannoso
und ihre Komik nachmachen, und ſogar den Fran-
zoſen etwas von dem geſtörten Tonweſen ihrer Deklamation
abſehn wird. Iſt dies ein Talent zu nennen? ein ausgebilde-
tes? Dies ſind ein paar Gaben, die, wie geſchäftige Tiſchge-
räthe, den Fremden oberflächlichen Beifall abſchöpfen! Dies

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0170" n="162"/>
es wirklich zwei Per&#x017F;onen &#x017F;ind, und nicht die&#x017F;elbe: die zu ret-<lb/>
tende, und die feige, nicht helfende. &#x2014; Nur Bewußt&#x017F;ein über-<lb/>
haupt kon&#x017F;tituirt Per&#x017F;önlichkeit, &#x2014; da wo der Feige nicht<lb/>
hilft, weiß er nicht, daß er Hülfe bedarf; wo ihm geholfen<lb/>
wird und er nur Noth fühlt, nicht, daß er nicht helfen würde.<lb/>
Es &#x017F;ind wirklich zwei ver&#x017F;chiedene We&#x017F;en. Solcher i&#x017F;t in der<lb/>
That nicht &#x017F;o weit wie eine Per&#x017F;on: es i&#x017F;t nur eine Kreatur.<lb/>
Und nun u. &#x017F;. w.! &#x2014;</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <p>Zu einem Talent gehört Karakter; Gemüths- und Gei-<lb/>
&#x017F;tesfertigkeiten, in Naturanlagen begründet, machen es nicht.<lb/>
Was hilft die rein&#x017F;te, klingend&#x017F;te Stimme, die beweglich&#x017F;te<lb/>
Kehle, das &#x017F;chnellfa&#x017F;&#x017F;end&#x017F;te Ohr, das be&#x017F;te Gedächtniß, die<lb/>
größte Nachahmungsgabe, wenn nicht eine einmalige tiefe<lb/>
per&#x017F;önliche An&#x017F;icht der Natur, eine &#x017F;olche Gemüths&#x017F;timmung<lb/>
mit ihren Varianten, ein helles, gei&#x017F;tiges Auffa&#x017F;&#x017F;en hoher und<lb/>
tiefer Zu&#x017F;tände der men&#x017F;chlichen Natur, die Seele und der<lb/>
Diktator die&#x017F;er phy&#x017F;i&#x017F;ch materiellen Gaben wird? Die&#x017F;e eben<lb/>
genannten Gaben, noch &#x017F;o geübt und gut zu&#x017F;ammengeübt,<lb/>
würden z. B. einen imitativen Sänger bilden, der bald in<lb/>
Eines, bald in eines Andern Manier vorzutragen &#x017F;uchen wird,<lb/>
bald wie eine Milder die Töne ziehen, bald wie die Catalani<lb/>
wirbeln und &#x017F;chreien wird, Italiänern ihr <hi rendition="#aq">parlando, furioso,<lb/>
affannoso</hi> und ihre Komik nachmachen, und &#x017F;ogar den Fran-<lb/>
zo&#x017F;en etwas von dem ge&#x017F;törten Tonwe&#x017F;en ihrer Deklamation<lb/>
ab&#x017F;ehn wird. I&#x017F;t dies ein Talent zu nennen? ein ausgebilde-<lb/>
tes? Dies &#x017F;ind ein paar Gaben, die, wie ge&#x017F;chäftige Ti&#x017F;chge-<lb/>
räthe, den Fremden oberflächlichen Beifall ab&#x017F;chöpfen! Dies<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[162/0170] es wirklich zwei Perſonen ſind, und nicht dieſelbe: die zu ret- tende, und die feige, nicht helfende. — Nur Bewußtſein über- haupt konſtituirt Perſönlichkeit, — da wo der Feige nicht hilft, weiß er nicht, daß er Hülfe bedarf; wo ihm geholfen wird und er nur Noth fühlt, nicht, daß er nicht helfen würde. Es ſind wirklich zwei verſchiedene Weſen. Solcher iſt in der That nicht ſo weit wie eine Perſon: es iſt nur eine Kreatur. Und nun u. ſ. w.! — Zu einem Talent gehört Karakter; Gemüths- und Gei- ſtesfertigkeiten, in Naturanlagen begründet, machen es nicht. Was hilft die reinſte, klingendſte Stimme, die beweglichſte Kehle, das ſchnellfaſſendſte Ohr, das beſte Gedächtniß, die größte Nachahmungsgabe, wenn nicht eine einmalige tiefe perſönliche Anſicht der Natur, eine ſolche Gemüthsſtimmung mit ihren Varianten, ein helles, geiſtiges Auffaſſen hoher und tiefer Zuſtände der menſchlichen Natur, die Seele und der Diktator dieſer phyſiſch materiellen Gaben wird? Dieſe eben genannten Gaben, noch ſo geübt und gut zuſammengeübt, würden z. B. einen imitativen Sänger bilden, der bald in Eines, bald in eines Andern Manier vorzutragen ſuchen wird, bald wie eine Milder die Töne ziehen, bald wie die Catalani wirbeln und ſchreien wird, Italiänern ihr parlando, furioso, affannoso und ihre Komik nachmachen, und ſogar den Fran- zoſen etwas von dem geſtörten Tonweſen ihrer Deklamation abſehn wird. Iſt dies ein Talent zu nennen? ein ausgebilde- tes? Dies ſind ein paar Gaben, die, wie geſchäftige Tiſchge- räthe, den Fremden oberflächlichen Beifall abſchöpfen! Dies

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/170
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/170>, abgerufen am 20.11.2024.