Ich glaube, ein großer Bestandtheil des Kinderglückes ist der, daß sie sich kein Lebensbild, auch nur Eines Tag's, ent- werfen können: und eine große Hülfe wäre es für Alte, die Jahres-, Monats- und Tagesbilder fahren zu lassen, und nicht zu glauben, wir könnten Lebensstoff aufsuchen und ihn uns zum Gebrauche vorlegen. Mir hilft es jetzt gleich zur Besinnung, wenn ich jeden Tag, jede Stunde denke: diese Bedingungen sind dir als Stoff gegeben; sieh, was du daraus arbeiten kannst: und frisch, fleißig, thätig, arbeitslustig! Und reißt man dir halbes Werk aus den Händen; der verliehene Tag, die Stunde will es so; Besitz giebt es nicht; das Wirken, das Werk, das ist uns zugetheilt. Man ist sehr verwöhnt, und falsch erzogen; ich muß mir's spät anders einlernen; aber es hilft sehr. --
Mittwoch, den 20. August 1823.
Diese vorangegangenen drei Betrachtungen schrieb ich ge- stern, Dienstag den 19. August 1823. Heute las ich im Kunst- blatte Frau von Helvig's Beurtheilung der Wach'schen Bilder: und fand gleich die volle Anwendung von dem, was ich über Schmeichelei aufgezeichnet hatte. -- Aus diesem Punkt her, und nach dieser Richtung hin, darf man nicht streichlen. Und nicht nur, leider! daß derlei Schmeichelei nur allein wirkt, und dies, wieder leider! nicht nur allgemein, sondern auch gemein ist; sondern auch, zum drittenmal leider! daß die Schmeichler, die doch die Chorführer dieser ganzen Heerde sind, und klüger sein müßten, als die Geschmeichelten und die zu Schmeichlenden, noch immer nicht besser zu führen verstehen!
8 *
Ich glaube, ein großer Beſtandtheil des Kinderglückes iſt der, daß ſie ſich kein Lebensbild, auch nur Eines Tag’s, ent- werfen können: und eine große Hülfe wäre es für Alte, die Jahres-, Monats- und Tagesbilder fahren zu laſſen, und nicht zu glauben, wir könnten Lebensſtoff aufſuchen und ihn uns zum Gebrauche vorlegen. Mir hilft es jetzt gleich zur Beſinnung, wenn ich jeden Tag, jede Stunde denke: dieſe Bedingungen ſind dir als Stoff gegeben; ſieh, was du daraus arbeiten kannſt: und friſch, fleißig, thätig, arbeitsluſtig! Und reißt man dir halbes Werk aus den Händen; der verliehene Tag, die Stunde will es ſo; Beſitz giebt es nicht; das Wirken, das Werk, das iſt uns zugetheilt. Man iſt ſehr verwöhnt, und falſch erzogen; ich muß mir’s ſpät anders einlernen; aber es hilft ſehr. —
Mittwoch, den 20. Auguſt 1823.
Dieſe vorangegangenen drei Betrachtungen ſchrieb ich ge- ſtern, Dienstag den 19. Auguſt 1823. Heute las ich im Kunſt- blatte Frau von Helvig’s Beurtheilung der Wach’ſchen Bilder: und fand gleich die volle Anwendung von dem, was ich über Schmeichelei aufgezeichnet hatte. — Aus dieſem Punkt her, und nach dieſer Richtung hin, darf man nicht ſtreichlen. Und nicht nur, leider! daß derlei Schmeichelei nur allein wirkt, und dies, wieder leider! nicht nur allgemein, ſondern auch gemein iſt; ſondern auch, zum drittenmal leider! daß die Schmeichler, die doch die Chorführer dieſer ganzen Heerde ſind, und klüger ſein müßten, als die Geſchmeichelten und die zu Schmeichlenden, noch immer nicht beſſer zu führen verſtehen!
8 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0123"n="115"/><p>Ich glaube, ein großer Beſtandtheil des Kinderglückes iſt<lb/>
der, daß ſie ſich kein Lebensbild, auch nur Eines Tag’s, ent-<lb/>
werfen können: und eine große Hülfe wäre es für Alte, die<lb/>
Jahres-, Monats- und Tagesbilder fahren zu laſſen, und<lb/>
nicht zu glauben, wir könnten Lebensſtoff aufſuchen und ihn<lb/>
uns zum Gebrauche vorlegen. Mir hilft es jetzt gleich zur<lb/>
Beſinnung, wenn ich jeden Tag, jede Stunde denke: dieſe<lb/>
Bedingungen ſind dir als Stoff gegeben; ſieh, was du daraus<lb/>
arbeiten kannſt: und friſch, fleißig, thätig, arbeit<hirendition="#g">sluſtig</hi>! Und<lb/>
reißt man dir halbes Werk aus den Händen; der verliehene Tag,<lb/>
die Stunde will es ſo; Beſitz giebt es nicht; das Wirken, das<lb/>
Werk, das iſt uns zugetheilt. Man iſt ſehr verwöhnt, und<lb/>
falſch erzogen; ich muß mir’s ſpät anders einlernen; aber es<lb/>
hilft ſehr. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Mittwoch, den 20. Auguſt 1823.</hi></dateline><lb/><p>Dieſe vorangegangenen drei Betrachtungen ſchrieb ich ge-<lb/>ſtern, Dienstag den 19. Auguſt 1823. Heute las ich im Kunſt-<lb/>
blatte Frau von Helvig’s Beurtheilung der Wach’ſchen Bilder:<lb/>
und fand gleich die volle Anwendung von dem, was ich über<lb/>
Schmeichelei aufgezeichnet hatte. — Aus dieſem Punkt her,<lb/>
und nach dieſer Richtung hin, darf man nicht ſtreichlen.<lb/>
Und nicht nur, leider! daß derlei Schmeichelei nur allein wirkt,<lb/>
und dies, wieder leider! nicht nur allgemein, ſondern auch<lb/>
gemein iſt; ſondern auch, zum drittenmal leider! daß die<lb/>
Schmeichler, die doch die Chorführer dieſer ganzen Heerde<lb/>ſind, und klüger ſein müßten, als die Geſchmeichelten und die<lb/>
zu Schmeichlenden, noch immer nicht beſſer zu führen verſtehen!</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">8 *</fw><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[115/0123]
Ich glaube, ein großer Beſtandtheil des Kinderglückes iſt
der, daß ſie ſich kein Lebensbild, auch nur Eines Tag’s, ent-
werfen können: und eine große Hülfe wäre es für Alte, die
Jahres-, Monats- und Tagesbilder fahren zu laſſen, und
nicht zu glauben, wir könnten Lebensſtoff aufſuchen und ihn
uns zum Gebrauche vorlegen. Mir hilft es jetzt gleich zur
Beſinnung, wenn ich jeden Tag, jede Stunde denke: dieſe
Bedingungen ſind dir als Stoff gegeben; ſieh, was du daraus
arbeiten kannſt: und friſch, fleißig, thätig, arbeitsluſtig! Und
reißt man dir halbes Werk aus den Händen; der verliehene Tag,
die Stunde will es ſo; Beſitz giebt es nicht; das Wirken, das
Werk, das iſt uns zugetheilt. Man iſt ſehr verwöhnt, und
falſch erzogen; ich muß mir’s ſpät anders einlernen; aber es
hilft ſehr. —
Mittwoch, den 20. Auguſt 1823.
Dieſe vorangegangenen drei Betrachtungen ſchrieb ich ge-
ſtern, Dienstag den 19. Auguſt 1823. Heute las ich im Kunſt-
blatte Frau von Helvig’s Beurtheilung der Wach’ſchen Bilder:
und fand gleich die volle Anwendung von dem, was ich über
Schmeichelei aufgezeichnet hatte. — Aus dieſem Punkt her,
und nach dieſer Richtung hin, darf man nicht ſtreichlen.
Und nicht nur, leider! daß derlei Schmeichelei nur allein wirkt,
und dies, wieder leider! nicht nur allgemein, ſondern auch
gemein iſt; ſondern auch, zum drittenmal leider! daß die
Schmeichler, die doch die Chorführer dieſer ganzen Heerde
ſind, und klüger ſein müßten, als die Geſchmeichelten und die
zu Schmeichlenden, noch immer nicht beſſer zu führen verſtehen!
8 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/123>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.